Leute, das Leben ist wild
weiter.
Alles verschwimmt. Ich schluchze auf. Alles verschwimmt. In mir. Und um mich herum. Meine Kiefer malmen, als würde ich durch ein Meer von Tränen schwimmen. Ja! So fühlt es sich an! Ein salziges Meer voller Tränen.
»Kannst du, Mama, kannst du lesen?«
»Natürlich, mein Kätzchen.« Mama liest stockend.
Liebste Lelle,
es ist jetzt kurz vor Mitternacht und du liegst drüben in deinem Bett und schläfst vermutlich schon. Gleich hast du Geburtstag, und ich wünsche dir alles Liebe und Gute für dein neues Lebensjahr - du wirst es ohne mich verbringen, weil ich für immer gehen werde. Ich weiß nicht, wohin und was mich erwarten wird. Ich hoffe, Frieden. Ich erinnere mich an so viel Schönes, was wir zusammen erlebt haben. Und ich erinnere mich, wie wir uns damals auf dem abgesägten Baumstamm überlegt haben, wie es sein könnte, wenn wir mal erwachsen und verheiratet sind und kinder haben. Du hast gesagt, du willst als Videokünstlerin berühmt werden und immer meine Freundin sein. Ich wünsche dir, dass Du es schaffst. Du wirst es ja erleben. Nur das mit der Freundschaft muss ich dir versauen. Sorry!
Ich kann nicht mehr, liebste Lelle. Ich kann nicht mehr. Ich bin so traurig. In mir tut alles weh. Liebste Lelle, du hast so oft deinen Arm um mich gelegt. Ich danke dir. Eine bessere Freundin als dich hätte ich nicht haben können und ich wünschte, ich könnte ein Leben lang deine Freundin sein. Ich mag dich so gerne. Ich mag deine Mutter so gerne. Es war immer schön bei euch. Ich danke dir für jede Sekunde, die du mit mir verbracht hast. Und wenn du irgendwann ein kunst-Video drehst, so wie du es ja immer vorhattest, dann dreh eins über mich.;-)
Liebste Lelle, es tut mir leid, dass ich an deinem Geburtstag gehen werde. Aber ich halte es nicht mehr länger aus. Der Schmerz zersprengt mich. Er kommt aus allen Richtungen auf mich zugerast. Ich dachte, die Liebe »zum Roadie«;-) würde den Schmerz wegnehmen. Jetzt ist auch da keine Liebe und ich fühle mich so schrecklich allein. Ich sitze hier am Schreibtisch und weiß, dass es bald ein Ende hat, dieses Gefühl, von allen anderen abgetrennt zu sein. Ich werde dich ewig vermissen. Lelle. Ich halte deine Hand und danke dir für deine Freundschaft, dein Lachen und für all unsere Gespräche und deine wärme. Gib auf dich Acht und mach nicht allzu viele Dummheiten. Ich hab dich sehr lieb. Auf ewig.
Deine beste Freundin Alina.
P. S. Mein Geburtstagsgeschenk an dich wirst du irgendwann mal im Radio hören.
Ich stehe auf. Ich stehe vom Schreibtischstuhl auf. Ich stehe. Der weiche Teppichboden kitzelt unter meinen nackten Sohlen. Ich wanke und halte mich an der Lehne vom Schreibtischstuhl fest. Mein Geburtstagsgeschenk werde ich im Radio hören. Ich sehe Mama an. Ihre Augen sind rot verquollen. »Lelle.«
Jetzt steht sie auch auf, als wollte sie mich auffangen. Aber ich stehe noch. In meinen Ohren rauscht es, meine Knie sind aus Gummi. Jetzt sacke ich weg. Runter. An Mamas Beinen hinunter. Ich sacke weg, auf den Teppichboden. Da knie ich für eine Sekunde, wie jemand, der hingerichtet werden soll. Dann kippe ich nach vorne über. Mit dem Gesicht auf Mamas lackierten Fuß.
Vorsichtig zieht sie ihn unter mir weg und hockt sich neben mich. Ihre Hand streicht über mein Haar. »Lelle, meine süße, kleine Lelle.«
Jetzt weinen wir beide. Mama beugt sich schützend über mich. Wir klammern uns aneinander wie zwei Ertrinkende. Wir schluchzen, unsere Körper zittern und überall fließen die Tränen - und plötzlich bricht sich alle Trauer, aller Schmerz Bahn. Dass Papa gegangen ist, dass Alina nicht wiederkommt, dass Arthur mit seinem Plastikflaschen-Katamaran wegsegelt, dass ich Johannes vielleicht verloren habe und dass das Leben nicht das Leichteste ist.
Mama zieht mich fest an sich und flüstert in mein feuchtes Ohr: »Lelle, wir bleiben stehen. Wir bleiben stehen. Wir bleiben stehen.«
Ich nicke, obwohl wir längst liegen, aber innerlich stehe ich. Ich stehe kerzengerade und stelle mich dem Leben und allem, was da kommen mag. Ich stelle mich der totalen Ungewissheit. Ich bin bereit. Hier, an diesem Punkt in meinem Leben, gerade 17-jährig. Und ein neuer Tag wird anbrechen und ich werde vorwärtsgehen, egal, was kommt. Ich werde der Ungewissheit begegnen und nicht zögern. Ich gehe durch sie hindurch. Weiter, weiter, immer weiter. Und lasse das Unglück hinter mir.
Mama sagt es immer wieder in mein Ohr: »Lelle, wir lassen das Unglück hinter
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