Leute, das Leben ist wild
Unsicherheiten. Meinen Schmerz. Der Mensch, so stelle ich gerade fest, wünscht sich immer ein noch größeres Unglück, damit es die vielen kleinen Unglücke, die er in sich spürt, überlagert und er sich nur noch mit einem einzigen, großen Unglück auseinanderzusetzen braucht. In diesem Fall wäre das Alinas Beinahe-Tod. Richtig sterben soll sie natürlich nicht, aber ins Wasser stürzen, damit mich der Schreck von meinem Schicksal ablenkt. Ich könnte vor anderen so tun, als sei ich besonders, weil in meinem Leben so viel Dramatisches passiert. Hinter diesem Unglück soll meine Sorge verschwinden, Arthur oder Johannes zu verlieren. Meine eigene Einsamkeit soll sich darin auflösen. Papas Verschwinden will ich vergessen. Das macht mir auch Angst.
Ihr glaubt mir nicht, dass mir dieser widerwärtige Wunsch durch den Kopf geht? Ihr findet mich unmoralisch, kaltblütig, krank, gestört? Na, dann befindet euch selber einmal in so einer Situation. Ihr werdet alles denken, nur nicht das, was moralisch richtig wäre.
Doch genau dazu zwinge ich mich jetzt.
Ich will nicht schuld sein an irgendetwas. Schon gar nicht an Alinas Tod. Ich will nicht etwas herbeisehnen, was ich am Ende nicht will. Natürlich will ich in meinem tiefsten Inneren nicht, dass Alina auch nur mit einem Zeh die Wasseroberfläche berührt. Ich will nicht zusehen, es nicht hören, wie sie mit den Strudeln kämpft und schließlich doch ertrinkt. Ich will sie nicht verlieren. Mit wem soll ich sonst lachen? Über wen soll ich sonst den Kopf schütteln? Wer soll mir immer wieder zeigen, wer ich wirklich bin? Alina ist meine beste Freundin. Ich falte die Hände vor meinen Schienbeinen und bete, leise flüsternd: »Lieber Gott, mach, dass nichts passiert!«
Dann richte ich mich vorsichtig wieder auf, meine Knie schmerzen. In meinem Kopf rauscht es gefährlich und ich fühle wieder diesen kalten, grausigen Hauch im Nacken. Und Alina rutscht mit einem leisen Schrei ab. Ins Wasser. Automatisch mache ich einen Sprung nach vorne. »Nein! Arthur, halt sie fest!«
Augenblicklich wirft sich Arthur flach hin und robbt im Liegen die Böschung hinunter. Durch das Wasserrauschen höre ich ihn atmen, die heruntergefallenen Blätter knistern unter seinen Bewegungen. Ich mache ein paar wacklige Schritte nach vorne.
Er brüllt: »Halt dich an den Büschen fest.«
Alinas schwarzer Schatten kämpft sich aus dem reißenden Wasser die steile Böschung hinauf und rutscht doch
unaufhaltsam wieder ab, gerissen von den Strudeln. Arthur gleitet hinterher. Mit seiner ganzen Kraft stößt er sich nach vorne ab, weiter die Böschung hinunter, wie ein Reptil. Meine Freundin kreiselt im Wasser, im tiefschwarzen, gurgelnden Fluss. Sie kämpft ja. Sie weint: »Lelle!«
Ich will es nicht sehen. Ich will es nicht hören. »Lelle, hilf mir!« Sie kämpft ja. Arthur liegt mit dem Kopf nach unten und streckt seine Arme aus. Er ist ganz nah an Alina dran und doch erreicht er sie nicht. Er wirft seinen Blick zurück in meine Richtung: »Lelle, einen Ast! Verdammt!«
Ich stehe starr. Einen Ast. Einen Ast. Einen Ast. Was ist das, ein Ast? Ich weine. Alinas erstickter Ruf: »Lelle.« Das Wispern, dieses Säuseln, bilde ich es mir ein? Ist sie es, die mich ruft? Endlich, vollkommen gelähmt, wende ich mich um, lasse meinen Blick durch die ins Dunkel getauchte Umgebung schweifen. Hier sind überall Äste, ein Gewirr von Ästen über mir, neben mir, fest an den Bäumen. Ich greife ins Leere, kriege nichts zu fassen. Greife immer wieder ins Leere. Ich höre Arthurs Stimme, rau und wirr: »Lelle, einen Ast.«
Ich warte darauf, dass mir jemand einen Schubs gibt, mich jemand programmiert, anleitet, meine Gliedmaßen bewegt. Da ist wieder Arthurs Schreien: »Einen Ast!«
Jetzt endlich komme ich in Gang. Wie ferngesteuert werfe ich mich auf die Knie, taste den erdigen Boden um mich herum ab. Da sind nur fest verankerte Wurzeln, ohne Anfang und Ende. Leere, schlaffe Rinde. Endlich bekomme ich einen Ast zu fassen, ich ziehe und zerre daran, bis er sich aus dem ihn umgebenden widerspenstigen Gestrüpp löst. Damit robbe ich nach vorne, hin zu meinem Freund. An meinem Bein läuft es warm herunter, ich wimmere. Gut, dass Arthur da ist. Gut, dass er sich kümmert.
Gut, dass er hinsieht. Meine Hose ist ganz nass. Die Tränen laufen. Alina! Sie kämpft ja. Ich will es nicht sehen. Ihre weit aufgerissenen Augen. Alina! Ich taste mich an Arthurs Körper entlang. »Hier! Hier ist der Ast!«
Ich will nicht
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