Leute, das Leben ist wild
arbeitet. Ich halte ihn fest. Gut, dass ich wenigstens einen meiner Freunde festhalten kann. Johannes
zieht an Alina. Ruckartig bewegt er sich zurück, Alinas leblosen Körper fest im Griff. Wie einen Sack voller Steine wuchtet er sie neben uns auf die Böschung. Ihre Arme schlackern. Ich robbe zu ihr. Johannes arbeitet weiter, greift wieder nach, dieses Mal nach Arthurs Arm. Ich höre ihn in der Dunkelheit husten. Zwei Jungenkörper arbeiten sich aneinander ab, die Muskeln voll angespannt, sich gegenseitig haltend, bis Arthur endlich erschöpft mit triefnassen Haaren neben die still daliegende Alina fällt.
Er keucht und hustet. »Atmet sie?«
Im Matsch taste ich nach Arthurs trockenem Hemd, das er sich vorhin runtergerissen hat. Alle sind an Land. »Da.«
Johannes nimmt mir das Hemd ab und legt es eng über Alinas Oberkörper. »Ich weiß nicht.«
Ganz still ist sie. Ich strecke mich über sie, meine Hand greift kurz nach Arthur, nur um zu wissen, dass er wirklich da ist, dass ich ihn sicher wieder habe. »Arthur!« Dabei lege ich mein Ohr dicht an Alinas Mund. »Ich höre nichts.«
»Wartet.« Johannes sucht etwas in seiner Hosentasche. Schließlich zieht er sein Feuerzeug hervor und schnippst es an. Damit beugt er sich vor, um in Alinas Gesicht zu leuchten, ihre Augenlider sind geöffnet. Die Augen starren ins Leere. Die Pupillen bewegen sich nicht. Johannes lauscht mit angehaltenem Atem. »Ich höre auch nichts.«
Mit letzter Kraft richtet sich Arthur noch einmal auf, streckt seine Arme voll durch und stürzt sich mit Wucht auf Alinas Brustkorb herunter. Und noch mal. Und noch mal. Johannes leuchtet wieder. Die Flamme flackert. Nichts passiert. Ich kralle mich an seinem T-Shirt fest, rieche seinen Geruch und erinnere mich an die kleine Mikrobe,
die wir uns vor einem Jahr beide in die Haut geritzt haben, zum Zeichen unserer Liebe.
»Was ist mit ihr?« Meine Zähne klappern aufeinander.
Arthur stützt sich wieder auf ihren mickrigen Brustkorb, dass es kracht. Er keucht. »Läuft Wasser aus ihrem Mund?«
»Ich kann nichts sehen.« Johannes beugt sich vor, die Flamme lodert auf und erlischt. Jetzt legt er die Hand an ihren offenen Mund und seine Stimme bricht. »Ja, aber sie atmet immer noch nicht.«
8
E s ist ganz still. So, als wäre die Welt in tiefen Schlaf gefallen. Ich weiß nicht, wie lange ich schon regungslos auf der Bettkante im ehemaligen Zimmer meiner Schwester sitze. Zwei Stunden? Mindestens. Bis gestern hat Alina hier drinnen übernachtet. Auf der kleinen Kommode neben dem Bett steht ein gerahmtes Bild von ihr und mir. Wir, im Sommer vor zwei Jahren. Arm in Arm sitzen wir grinsend aneinandergequetscht auf einer Spielplatzschaukel. An diesem Nachmittag hatte Alina ihr Handy einfach so weit wie möglich von uns weggehalten und abgedrückt. Das war kurz bevor wir bei Pia ins Haus eingebrochen waren, diesem Mädchen aus der Zehnten, in das Alina damals so unsterblich verliebt gewesen war. »Pia ist mein Idol«, hatte sie immer gesagt. So wie Pia wollte Alina sein. Schön und cool.
Meine Alina. Unwillkürlich muss ich grinsen und nehme das leicht verwackelte Foto hoch. »Hi, Alina.« Dann steigen mir schon wieder die Tränen hoch. Ich sehe sie an. Sie sieht mich an, und ich kann nicht glauben, dass es Alina nicht mehr gibt. Ich versuche ein Lächeln und flüstere: »Du fehlst mir.« So, als könnte mein Lächeln sie aus dem Foto zu mir ins Zimmer ziehen und alles ungeschehen machen. Dieses verschwörerische Lächeln war doch unser Zeichen: Wir gehören zusammen.
Mit zitternden Händen halte ich das Bild im Schoß.
Mir ist kalt, obwohl draußen so schön die Sonne scheint. Der Himmel spannt sich, wie auch in den letzten Tagen, wolkenlos und strahlend über uns. Vor dem angekippten Fenster summen die Bienen unermüdlich über die zarten, duftenden Blüten der Felsenbirne.
Leute, seit gestern bin ich 17 Jahre alt.
Und es ist härter, als ich es je für möglich gehalten habe. Ich wollte doch mal eine Pause vom Leben nehmen. Nur, um mal kurz und kräftig durchzuatmen. Diese Pause hat sich Alina definitiv genommen.
Auf dem Teppich vor dem Bett stehen ihre schwarzen, wattierten Hausschuhe mit den Totenköpfen aus Strasssteinen. Über dem Bett pinnt ein riesiges Poster von Bird’s Nest, das hat sie sich im Internet bestellt. Darauf rocken die vier Jungs in so einem katakombenartigen Probenraum. Auf dem Schreibtisch liegt Alinas schwarzes Tagebuch mit dem goldenen Schloss. Die Kleiderschranktür
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