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Leute, das Leben ist wild

Titel: Leute, das Leben ist wild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexa Hennig Lange
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im Reifen ist.«
    »Zu Hause?«
    Ohne zu antworten, klemmt Papa die Pumpe wieder an meinem Rad fest und wir schieben es nach draußen. Es gibt für Papa kein zu Hause mehr. Auch, wenn im Keller möglicherweise noch sein Flickzeug liegt. Das muss er sich mal klarmachen. Ich denke, er hat begriffen, was ich meine. Er sieht nämlich gar nicht glücklich aus. Inzwischen regnet es noch stärker. Ich setze meine Kapuze auf, Papa steckt seine Hände wieder in die Hosentaschen und so schlurfen wir nebeneinander die rosa blühende Allee hinunter. An uns flitzen die Schüler auf ihren Rädern vorbei, bis die Allee schließlich ganz leer ist. Nur noch die feinen Blüten flattern über uns im aufkommenden Wind, und meine Stimme klingt ganz hohl, als ich frage: »Was meinst du damit, dass du nicht weißt, ob das, was du tust, richtig oder falsch ist?«
    Papa antwortet lange nicht. Er atmet nur ein und aus, setzt an und bricht wieder ab. Endlich murmelt er: »Tja, also …«
    Mehr ist aus ihm nicht rauszukriegen. Tja, also. Als wir schließlich das Ende der Allee erreicht haben, bin ich genauso schlau wie vorher. Ich sehe Papa fragend von der Seite an, aber er scheint noch immer krampfhaft nach
den richtigen Worten in sich zu suchen. Schweigend gehen wir den Feldweg hinunter und die Brücke hinauf, der Regen wird immer stärker. Oben bleiben wir am Geländer stehen, die Tropfen klatschen uns auf die Gesichter. Wir gucken hinunter ins trübe, sich kräuselnde Wasser. Darin ist Alina ertrunken. Da drin. In diesem Fluss. In diesem grünen Wasser. Wusstet ihr, dass es so leicht ist, ein Leben zu beenden? Ich kann das nicht verstehen. Gerade noch war sie da, hat geredet, ins Telefon gebrüllt, neben mir auf der Bank gehockt und eine Zigarette geraucht, ist im Supermarkt vor Aufregung und Freude auf und ab gesprungen.
    Ich hebe den Blick an, lasse ihn über die verhangenen Felder gleiten, hinüber zum Kloster, über dem die regenschweren Wolken hängen. Donner grollt heran, weiter hinten blitzt es. Dort drüben, wo sich der Fluss in eine steile Kurve legt, ist es passiert. Von hier oben kann ich am dichten Waldrand entlangsehen, der direkt ans Ufer anschließt. Ich meine, mich zu entdecken, wie ich dort im Unterholz kniend fahrig nach einem dicken Ast taste.
    Papa legt den Arm um meine Schulter und führt mich weiter. »Komm! Lass uns gehen, bevor wir vom Blitz getroffen werden.«
    Das wurde ich schon längst, wenn ihr mich fragt. Vom Blitz des Lebens. Ein ganzer Blitze-Hagel ist in den letzten Tagen auf mich niedergeschossen. Wir gehen nun schneller, die Brücke wieder hinunter, deren abschüssige Rampe von großen Büschen gesäumt wird, sodass jetzt der Blick zum Flussufer verdeckt ist.
    Papa räuspert sich schon wieder. »Es tut mir leid, Lelle. Es tut mir leid, was passiert ist.«
    Durch den Regen sehe ich ihn von der Seite an. »Was
tut dir leid? Dass du an meinem Geburtstag abgehauen bist, dass Alina sich umgebracht hat? Dass Arthur übermorgen mit seinem Plastikflaschen-Katamaran zur größten schwimmenden Müllhalde im Pazifik aufbricht und ich nicht weiß, wann und ob er wiederkommt? Dass Mama mir einfach ein WG-Zimmer besorgt hat? Oder dass du zu einer Schönheitschirurgin abgewandert bist? Was genau meinst du?«
    Papas Brust hebt sich, so, als hätte er Beklemmungen. »Dass ich dich alleingelassen habe.«
    »Du hast uns alle alleingelassen und zwar schon vor Jahren!«
    »Ich weiß.«
    »Besonders Mama hast du mit allem alleingelassen. Die musste immer alles alleine hinkriegen. Du hast dich nie gefragt, wie es ihr geht, ob sie alles schafft und was sie sich wünscht. Du hast immer nur das gemacht, wozu du gerade Lust hattest. Ohne Rücksicht auf Verluste. Und wenn Mama sich Sorgen um uns gemacht hat, hast du sie auch alleingelassen. Und wenn sie dachte, sie stirbt vor Stress an einem Herzinfarkt, musste sie selbst den Notarzt rufen. Und jetzt hast du uns eben wieder alleingelassen.«
    Papa presst hervor: »Jep.«
    Dafür wird meine Stimme immer lauter. »Und warum?«
    »Weil mir das alles zu viel geworden ist.«
    »Aha! Was denn genau? Dass Mama sich um alles gekümmert hat? Was wäre denn gewesen, wenn Mama das alles einfach auch mal zu viel geworden wäre? Hätte sie auch gehen sollen?«
    Papa nickt vor sich hin. Dann pustet er die Luft aus.
»Ich hab mich irgendwie so gefangen gefühlt. Ich dachte, das kann doch noch nicht alles gewesen sein!«
    »Nicht alles gewesen sein? Du hattest eine tolle Frau und zwei Töchter, die

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