Leute, die Liebe schockt
Schienen auf die andere Seite. Da stelle ich mich ins Wartehäuschen in den Schatten und gucke runter auf meine neuen Chucks, die meine Schwester, wie wir wissen, ohne meine Erlaubnis eingetragen hat. Die haben so ein Fotoprint-Motiv mit einem brennenden Mann im Anzug, der einem anderen Anzugtypen die Hand schüttelt. Ob das ein Zeichen ist? Papa meint, das Bild wäre vom Plattencover von so einer legendären Rockband geklaut, die er früher gerne mit seinen Studentenfreunden gehört hat. Leider kann ich mich nicht mehr an den Namen erinnern. Ist auch nicht so wichtig. Wichtig ist der symbolische Gehalt dieses Bildes. Der eine Mann brennt, der andere nicht. Und beide reichen sich dennoch die Hand. Die Frage ist: Wem geht es besser? Dem brennenden
Mann, oder dem, der zuguckt, wie der andere brennt? Und warum versuchen sie nicht, das Feuer zu löschen? Wahrscheinlich weil außerhalb des Bildes Assistenten mit Löschdecken stehen und warten, bis das Foto geschossen ist. Vermutlich handelt es sich bei dem brennenden Mann um einen Stuntman, der den lieben langen Tag nichts anderes macht, als sich anzünden zu lassen. Toller Job. Ich brenne auch, Leute. Diese paar Minuten in der prallen Sonne haben gereicht, um meine Haut vollkommen zu ruinieren. Großartig. Meine Arme sind krebsrot. Ich will nicht wissen, wie mein Gesicht aussieht. Zumindest fühlt es sich so an, als hätte ich es zwischen die Platten eines Sandwichmakers gesteckt und den Deckel zugeklappt.
Die Bahn kommt, und wüsste Mama, dass ich hier gerade einem »Jüngelchen«, wie sie die Jungs gerne nennt, hinterherfahre, würde sie schlicht verzweifeln. Ich höre ihre Worte: »Mensch, nun gehorch denen doch nicht immer aufs Wort! Die können doch zu dir kommen, wenn sie was wollen.« Das Problem ist nur: Ich will ja was von Johannes! Aber auch in diesem Fall ist Mama grundsätzlich der Ansicht, dass es die Aufgabe des Jungen ist, zu mir zu kommen, anstatt mich quer durch die Weltgeschichte zu scheuchen. Würde ich sie jetzt anrufen und fragen, was ich machen soll, würde sie sagen: »Komm nach Hause und lies ein gutes Buch.«
Mama ist in ihren Aussagen irgendwie total ambivalent. Auf der einen Seite haben Cotsch und ich von der Pike auf gelernt, anständig, unkompliziert und leicht zu handhaben zu sein, um es den Männern einfach zu machen. Und auf der anderen Seite sollen wir den Männern
nicht zu sehr entgegenkommen. Wie soll man da durchsteigen? Arthur würde mich nie einfach irgendwo hinbestellen. Wobei ich mich jetzt, als ich mich in der Bahn auf einen schattigen Fensterplatz setze, schon wieder besorgt frage, ob Arthur vorhin im Garten saß und was gehört hat. Von wegen, dass ich nicht von Johannes loskomme. Das würde ihm das Herz brechen. Ich meine, wenn mich jemand, neben Mama, auf dieser Welt bedingungslos liebt, dann ist das definitiv Arthur. Nicht Johannes, wie ich gerade feststellen muss. Und trotzdem eiere ich dem hinterher. Vermutlich genau darum. Weil er mich irgendwo hinbestellt. Das ist wohl ein typischer Mechanismus zwischen Liebenden: Je weiter sich der eine entfernt, desto näher kommt der andere.
Vielleicht will Johannes mich ja auch nur anlocken, damit ich endlich schnalle, dass ich ihm mein Herz nun endgültig schenken sollte. Immerhin hat er es auch nicht gerade einfach mit mir. Schließlich weiß er, dass ich schon an Arthur vergeben bin. Das ist auch nicht schön. Damit muss er ja auch irgendwie klarkommen - egal ob er das will oder nicht. Wie wir wissen, empfindet Johannes noch was für mich, hat er ja damals in der U-Bahn gesagt, oder nicht? Vermutlich will er mich von sich abhängig machen, damit ich mich von Arthur lossage. Ich muss cool bleiben und die Sache mit kühlem Kopf angehen, um keine weiteren Fehler zu machen und voreilige Entscheidungen zu treffen …
Nur noch fünf Stationen, dann bin ich am Ziel. Mein Gesicht brennt. Toll. Wahrscheinlich sehe ich so aus, als hätte ich gerade ein Eins-a-Fruchtsäure-Gesichtspeeling hinter mir, bei dem die ersten beiden Hautschichten abgetragen
wurden. Hat Rita mal gemacht. Danach sah sie wie gekocht aus. Mama, Cotsch und ich dachten echt, ein Zombie steht vor der Tür, als sie bei uns geklingelt hat. Wir dachten wirklich, ihr Gesicht wird nicht wieder. Eine Woche saß Rita heulend und mit knallroter Birne auf unserem Sofa rum: »Ich wollte doch nur die ganzen Knitterfältchen loswerden, die ich seit der Scheidung von Rainer habe. Guck mich an! Jetzt sehe ich aus wie eine Pizza!«
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