Leute, die Liebe schockt
Und Mama hat ihr immer wieder aufopferungsvoll über den Rücken gestrichen und glaubhaft versichert: »Ach, Rita! Red doch keinen Blödsinn! Dein Gesicht sieht doch nicht wie eine Pizza aus.«
Und nun sieht mein Gesicht wie eine Pizza aus. Ich hätte vorhin einfach zu Hause bleiben und mit Arthur einen Spaziergang machen sollen. Ich sollte bescheiden und dankbar sein und meiner Beziehung mit Arthur demutsvoll gegenüberstehen, anstatt immer mehr zu wollen und den Hals nicht vollzukriegen. Irgendwann geht dieser Lebenshunger nach hinten los. Irgendwann kriege ich für all meine Risikofreude die Rechnung. Ich warte schon darauf. Ich meine, wenn ich mir vorstelle, dass ich heute Abend auch noch mit der depressiven Alina im Backstagebereich von Tokio Hotel rumrenne, auf der Jagd nach Autogrammen, dreht sich mir sowieso der Magen um.
Leute, hier macht man was mit. Das kann ich euch sagen.
In der Bahn sitzen kaum Leute, wenn wundert’s? Drau ßen ist es so heiß, dass alle im Freibad rumhängen. Nur ich nicht. Und Alina. Die hockt in Cotschs altem Jugendzimmer und schnippelt an ihrer schwarzen Skinny-Jeans
rum. Und meine Schwester streichelt ihren schwangeren Bauch und spürt das zarte Strampeln ihres ungeborenen Töchterchens. Und Mama deckt den Kaffeetisch auf und ab und hat Panik, dass sie noch mal richtig gefordert ist, wenn das Kind erst da ist. Dabei wollte sie sich doch nach Cotschs bestandenem Abitur gemeinsam mit Rita auf den Jakobsweg machen und zu sich kommen.
Was ist eigentlich mit Helmuth? Ich meine, der kann sich doch ums Baby kümmern, wenn Cotsch groß ins Business einsteigt, oder nicht? Das wäre mal eine moderne Beziehung: Die Frau geht arbeiten, der Tennistrainer bleibt zu Hause. Garantiert würde Helmuth beim nächsten Gemeindefest von den Frauen der Nachbarschaft als herausragendes Beispiel abgefeiert werden. So nach dem Motto: »Seht her! Unser Helmuth ist ein moderner Mann, der den Frauen unter die Arme greift. Er hat verstanden, dass sich Vater und Mutter gleichermaßen um die Aufzucht ihrer Kinder kümmern sollten.« Oder aber genau das Gegenteil tritt ein, und die ganzen Hausfrauen werden ihn steinigen, weil er ihnen mit diesem visionären Lebensmodell vorführt, was ihnen, den alternden Nachbarsfrauen, selbst nicht vergönnt war: Karriere und Mutterschaft unter einen Hut zu bekommen. Wobei ich mich frage, ob das überhaupt eine von denen ernsthaft wollte - ausgenommen Mama. Die wollte wirklich Karriere machen, aber auch gleichzeitig die beste Mutter der Welt sein. Beides ging nicht. Vor allen Dingen nicht mit Papa, dem Patriarchen an ihrer Seite. Also ist sie an ihrem Schicksal verzweifelt. Leute, ich muss aussteigen.
Ich springe aus der Bahn und - schlechte Nachricht, Leute! Hier auf dieser staubigen Brache steht gar kein
Wartehäuschen mehr. Hier steht nicht mal ein Schatten spendender Baum oder ein Strauch, unter den ich mich kauern könnte. Nur sandige Ebene, wie in der Wüste, und weiter hinten erstrecken sich angerostete Baracken mit Wellblechdächern und dahinter flache, einstöckige Riegel mit verstaubten beziehungsweise eingeschlagenen Fenstern. Sehr gut. Ich spüre förmlich, wie meine Haut vor Hitze Blasen wirft. Am besten, ich hole mein Handy raus und rufe Johannes an, damit er mich holen kommt. Ich hoffe, dieses Freestylefighten findet gleich in einer dieser heruntergekommenen Baracken statt. Bitte, bitte lieber Gott, mach, dass er gleich aus einer der Türen auftaucht und mir zuwinkt.
Ich drücke mir das Handy ans Ohr und meine Augen brennen. Eine Art Wüstenwind weht mir trockenen Sand in die Sehschlitze. Schützend halte ich mir den Unterarm vors Gesicht. Ich verdurste leider gleich. Und am anderen Ende geht interessanterweise direkt die Mailbox dran. Ich lege auf und wähle gleich noch mal. Ich will ja nicht hysterisch wirken, aber ich mache mir gerade leichte Sorgen. Wieder geht nur die Mailbox dran. Tja, Leute. Was macht man da? In weiter Ferne und flimmernder Luft sehe ich die Bahn in die andere Richtung nahen. Soll ich nicht besser einsteigen und zurück nach Hause fahren? Dann müsste ich wenigstens nicht in den Backstagebereich von Tokio Hotel, und Alina kann echt nicht verlangen, dass ich in dieser Affenhitze rumrenne, um ihre Karten zu suchen.
Doch genau das werde ich jetzt leider trotzdem machen, allerdings weniger wegen der Karten, sondern weil ich dummerweise süchtig danach bin, Johannes zu sehen.
Ich könnte es nicht aushalten, unverrichteter Dinge wieder
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