Leute, ich fuehle mich leicht
habe ich das Gefühl, Leben ist eine gute Sache. Wir drücken unsere Zigarettenstummel aus, und als Johannes diesen getöpferten Untersetzer beiseitestellt, legt er sich dabei etwas über mich, sodass ich seinen Hals und seine Wange direkt vor meinen Augen habe. Ich höre, wie er den Untersetzer auf dem Boden abstellt, und als er sich wieder aufrichtet, rieche ich seinen ganz speziellen weichen Johannes-Duft. Und in dieser Bewegung, ich weiß gar nicht richtig, wie es kommt, küsst er mich plötzlich vorsichtig auf den Mund. Und dann noch mal, und ich mache mit. Im nächsten Moment legt er schon seine Arme um meinen Oberkörper und ich meine um seinen Hals. Wir liegen auf seinem Bett, sein Bein drängt sich zwischen meine Beine. Er sieht mich an und grinst zwischen seinem langen Pony hindurch. Ich grinse auch, dann küssen wir uns wieder sehr sanft. Und irgendwann - im übernächsten Augenblick - fällt mir auf, dass draußen vor der gekippten Terrassentür die Amseln zu zwitschern beginnen und sich der Himmel vom satten Blau ins Rotlila verwandelt. Ein wenig fühle ich mich wie Aschenputtel, als ich bemerke: »Scheiße, ich muss los.«
Es ist bestimmt schon nach halb acht. So lange war ich noch nie von zu Hause weg, ohne mich zwischendurch bei Mama gemeldet zu haben. Normalerweise essen wir um sieben Uhr. Ich habe noch nie, noch nie die Zeit vergessen. Das macht wirklich nur meine Schwester, und dann regen Mama und ich uns furchtbar auf und finden, dass sie mal zuverlässiger sein sollte. Ich schiebe Johannes vorsichtig von mir runter und stehe auf. Dabei streiche ich meine Jeans glatt und mache mir den Pferdeschwanz neu. Muss ja nicht jeder sehen, dass wir über eine Stunde rumgeknutscht haben. Wenn es nicht sogar zwei waren.
Johannes verschränkt die Arme unter dem Kopf und flüstert: »Wohin willst du?«
»Nach Hause.«
Ich höre, wie meine Stimme angespannt zittert, meine Hände schlackern auch. Ich drehe mich um und suche mit den Augen den Fußboden und den Schreibtisch nach meinem Handy ab. Vorhin steckte es noch in meiner Hosentasche.
»Hast du mein Telefon gesehen?«
»Nee. Wo hattest du es denn?«
»In meiner Jeans.«
Johannes kniet sich auf seine Matratze und tastet mit den Händen den Spalt zwischen Überdecke und Wand ab. Da ist nichts, außer einer alten Socke und einem Päckchen Zigarettenblättchen. Jetzt gehe ich auch runter auf den Boden. Vielleicht ist es ja unter die Matratze gerutscht. Oder ich habe es im Klo verloren. Gerade als ich raus in den Flur will, kommt mir eine große Frau mit ziemlich wütendem Gesicht entgegen. Ich vermute, es ist die Mutter von Johannes. Ohne mich zu begrüßen, quetscht sie sich an mir vorbei ins Zimmer, wo Johannes und ich eben noch gemütlich auf dem Bett lagen. Die Überdecke sieht total zerwühlt aus.
Sie stemmt die Hände in die Seiten und schimpft gleich los: »Wo ist Henrie?«
Johannes bleibt wie versteinert da unten auf seinem Lager knien. Er glotzt nur ganz starr zu seiner Mutter hoch, und irgendwann, nach ungefähr zehn Stunden, als ich mich von dem ersten Schreck einigermaßen erholt habe, stottert er: »Scheiße.«
Mehr nicht.
Am liebsten würde ich mich direkt verdünnisieren. Ich will nicht, dass Johannes’ Mutter denkt, ich sei unvernünftig oder unzuverlässig. Das bin ich nicht! Ich weiß ja auch nicht, wie wir vergessen konnten, den kleinen Henrie abzuholen. Vorhin habe ich ja sogar noch gefragt, wann wir losmüssen. Das ist jetzt wirklich eine äußerst knifflige Situation. Wo mein Handy ja nun auch noch weg ist und ich eben mal zu Hause anrufen müsste, um Mama ein Lebenszeichen zu geben. Die ist bestimmt schon so was von runter mit den Nerven, dass sie zu nichts mehr fähig ist, als sich vorzustellen, wie ich nackt und vergewaltigt im Straßengraben liege. Ich muss sie erlösen! Ich gucke zu Johannes. Der rappelt sich schnell auf und greift nach seiner Jacke.
»Ich hole ihn.«
Und ich nicke der Mutter in der weinroten Bluse freundlich zu und flitze an ihr vorbei ins Klo, knipse das Licht an, und tatsächlich: Da liegt mein Handy neben der Kloschüssel auf den Fliesen. Es muss mir aus der Hintertasche gerutscht sein, als ich vorhin nach meiner Mikrobe gesehen habe. Ich hebe es auf, knipse das Licht wieder aus, schließe die Tür sorgfältig, um wenigstens einen einigermaßen angebrachten Abgang zu machen, und sage: »Einen schönen Abend noch!«
Dann sause ich hinter Johannes her, den Gang hinunter. Johannes’ Mutter ruft uns
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