Leute, ich fuehle mich leicht
hinuntergeschleppt, auf dem all diese magersüchtigen Mädchen standen und mich aus ihren großen, hungrigen Augen ansahen. Sie tuschelten: »Was ist denn mit Lelle los?«
Es war albtraumhaft. Ich kann diesen grauenhaften Geisteszustand, in dem ich mich zu diesem Zeitpunkt befunden habe, nicht beschreiben, es war so, als würde mich etwas Unsichtbares, Starkes in das endlose dunkle Universum ziehen. Raus aus meinem Leben, aus all der Freude und Fröhlichkeit. Hinein in die ewige Dunkelheit und Kälte. Normal ist so ein Zustand ganz bestimmt nicht. Plötzlich fühlte ich in mir diese furchtbare Angst, für immer einsam zu sein. Kennt ihr diesen Zustand, Leute?
Eine geschlagene Stunde lang saß ich dann mit meiner Therapeutin auf der Bettkante, ihr weißer Kittel knisterte neben mir. Im Augenwinkel hatte ich den roten Schlauch von ihrem Abhörgerät. Ihre Hand lag auf meinem Rücken, um mich zu beruhigen. Das war die Stunde, in der ich aufgeben wollte. Ich wollte, dass alles ein Ende hat. Und ich habe immer weitergeweint und die Tränen fielen auf meine Knie. Ich habe an Mama gedacht und wie ich früher als Säugling in ihrem Schoß lag und sie mich wiegte und mir die Haare aus der Stirn strich. Da war alles gut. Da war ich geborgen. Und sie lächelte glücklich auf mich herunter. Ich war ihr kleiner Liebling.
Als ich meine verquollenen Augen für einen Moment öffnete und mir die Nase putzte, sah ich, wie die Arsch-Simone vor mir meine Jeans gemächlich auszog und sie dann als Knäuel auf dem Boden liegen ließ. Ich hätte sie umbringen können. Ich hätte sie echt umbringen können. Auf ganz bestialische Art und Weise. Ich war so unendlich wütend, und ich weiß nicht, wie ich in diesem Zustand die Nacht überstehen konnte. Heute erscheint es mir als schlicht unmöglich. Meine Therapeutin ist immer wieder zu uns reingekommen, hat mir wieder und wieder über den Rücken gestreichelt und gesagt: »Alles ist gut. Es ist gut. Dir passiert nichts.«
Und ich habe nur gewimmert: »Mama, Mama, Mama. Ich will zu meiner Mama.«
Aber als Frau Eger wissen wollte, ob sie meine Mutter wirklich anrufen sollen, habe ich den Kopf geschüttelt und noch mal richtig losgeheult. Ich wusste, dass ich es ohne sie schaffen muss. Irgendwie.
Gleich kommt Johannes. Ich stehe in der prallen Mittagssonne vor dem Klinikeingang. Es ist bestes Wetter und meine Jeans ist inzwischen frisch gewaschen. Meine Haare sind es auch. Ich bin wirklich ein wenig aufgeregt. Wir haben uns seit fast drei Wochen nicht mehr gesehen. Das Einzige, was mich mit ihm über diese lange Zeit tief verbunden hat, ist die wulstige Mikrobe auf unserer Haut. Aus dem Drehkreuz hinter mir taumeln meine klapprigen Klinikgenossinnen mit ihren strohigen Haaren und eingefallenen Gesichtern, als wären sie schon mindestens hundertzehn. Einige von ihnen binden sich sogar Kissen um den Po, damit sie sich überhaupt auf die nächste Bank setzen können, ohne dass es ihnen am Hintern wehtut. Ihre Hosen schlackern um ihre Beine und viele von ihnen habe ich noch nie lächeln gesehen. Sie gehen an mir vorbei und sagen leise: »Hallo, Lelle.«
Und wenn sie zu zweit herumlaufen, dann haken sie sich unter. Sie trödeln die asphaltierte Straße hinunter, an der Glasbläserei vorbei, ein Stück durch den Park, am See entlang. Ich sehe ihnen nach, wie ihre Schulterblätter sich spitz unter ihren kleinen T-Shirts abzeichnen, sie gehen gemächlich, wie Heuschrecken, die probieren, sich aufrecht fortzubewegen. Und in mir tobt das Leben. Ich will mehr. Ich will mich auflösen, mich mit der Luft vermengen. Ich will raus aus meinem Körper, um mich endlich frei bewegen zu können.
Ich blinzle.
Oben auf dem Hügel, wo sich die Straße in eine Kurve legt und ein paar Grasbüschel im Wind zittern, entdecke ich Johannes, wie er mit schlackernden Armen, seiner weiten Jeans und den rot glitzernden Chucks durch die flirrende Luft zu mir herunterkommt. Automatisch hebe ich den Arm. Und er winkt zurück. Langsam komme ich auf ihn zu, bewege mich in der Hitze die steile Straße hinauf, bis ich vor ihm stehen bleibe und er fast doppelt so groß zu sein scheint wie ich.
Er sieht auf mich herunter, ich zwinkere zu ihm herauf und sage: »Hallo, na?«
»Ey, Elsbeth.«
Er legt seinen Arm um mich und zieht mich an sich. Das Ganze kommt mir irgendwie unwirklich vor. Johannes, mit mir auf der Straße vor der psychosomatischen Klinik. Ich weiß nicht, ob er hier zur Inspiration wirklich gerne Patient
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