Leute, mein Herz glueht
und ich vermute, Samuel hat das Handy in den Fußraum vom Polizeiauto geschmissen und mit seinem riesigen Basketball-Sneaker draufgetrampelt. Der Typ macht nämlich Freestyle-Fighten. Das ist so eine Sportart, bei der man sich mit Absicht gegenseitig alle Knochen bricht. Samuel ist so was von schräg. Das kann man sagen. Tja. Die Frage ist jetzt nur: »Wie kann mich Johannes ohne Handy erreichen? Die Antwort ist: gar nicht!
Zur Entspannung stelle ich mich rüber an meine Fensterbank, wo meine selbst getöpferten Skulpturen stehen, und sehe durch die orange gefärbten Blättchen des Rosenbusches. Willkommen im Leben, kann ich nur sagen. Ich sollte mich erst einmal sammeln. Am besten, ich rufe Alina an. Mit der bespreche ich das jetzt mal en détail . Ich muss eine zweite Meinung einholen und garantiert nicht die von Mama. Die will am Ende noch, dass ich den Kontakt zu Johannes abbreche, um nicht in kriminelle Machenschaften hineingezogen zu werden. Dabei kommt der eigentlich aus einer recht guten Familie. Sein Vater ist Bildhauer. Das war bisher für mich das Zeichen, dass wir zusammengehören. Ich will nämlich auch Bildhauerin werden. Darum forme ich schon seit Längerem Figuren aus Ton. Solche mit langen, dünnen Gliedmaßen und verzerrten Gesichtern. Sie sind sehr expressiv, sagt Papa. Zu meinem Geburtstag will er mir einen Felsbrocken besorgen, damit ich endlich im großen Stile bildhauern kann. Papa steht auf Kunst. Besonders auf »entartete«, also solche, die sich nicht ausschließlich an der Natur orientiert.
Ich wähle Alinas Nummer und sie geht augenblicklich dran: »Lelle, bist du’s?«
»Ja, wer sonst?«
»Ich muss mit dir reden.«
»Ich auch mit dir.«
»Weißt du’s schon, oder was?«
»Nee, was denn?«
»Sag ich dir dann, wenn wir uns unter vier Augen sprechen.«
»Okay. Worum geht es?«
»Wollen wir uns unten an der gefährlichen Stelle vom Fluss treffen?«
»Jetzt?«
»Ja.«
Ich klappe mein Handy zu und auf der anderen Seite der Fensterscheibe schlägt sich Papa durchs Gebüsch, bis zu mir ans Fenster. Jetzt legt er die Hände ums Gesicht, damit er mich besser hinter der Scheibe erkennen kann. Können die Leute mich nicht ein einziges Mal in Ruhe lassen?
»Kommst du wieder raus?«
Ich schüttle den Kopf und rufe zurück: »Nee, ich treffe mich kurz mit Alina.«
Papa nickt enttäuscht und in mir klumpen sich zum hundertsten Mal an diesem Tag sämtliche Organe zusammen. Ich würde ihm ja gerne den Gefallen tun und ihm im Garten helfen, aber ich muss mich jetzt erst mal um mich selbst kümmern.
4
I ch schiebe mein Rad hinten aus dem Schuppen, springe auf den Sattel und strample los. An den Vorgärten vorbei, in den Wald hinein, durch den gülden beschienenen Park. Für einige Augenblicke geht mein Herz auf und ich sauge all die herbstliche Schönheit in mich hinein: die vielen unterschiedlichen Orange- und Rottöne des Laubs, die Pferde, die im nachmittäglichen Licht mit glänzendem Fell weiter hinten auf der Weide grasen. Der Fluss, der sich zwischen den saftigen Rasenstücken graugrün hindurchschlängelt. Und ich trete in die Pedale, rausche über den gekiesten Weg, hin zum hohlen Baum. Weiter, in den kleinen Wald hinein. Hier muss ich absteigen und das Rad über die Wurzeln im schmalen Trampelpfad hieven, dorthin, wo sich der Fluss in eine reißende Kurve legt.
Das ist Alinas und mein angestammter Treffpunkt. Hier können wir ungestört rauchen. Bis auf das eine Mal, als ein paar besoffene Vollidioten im Fluss baden gegangen sind. Ich muss nicht sagen, dass sie nur knapp dem Tode entronnen sind. Die Strudel haben sie gnadenlos nach unten gezogen. Da konnten sie rumpaddeln, wie sie wollten. Die sind mit ihren Köpfen immer wieder komplett unter Wasser gewesen. Alina und ich standen am Ufer rum und haben versucht, sie mit Stöckchen rauszufischen. Irgendwann mussten wir einsehen, dass das nicht klappt. Also haben wir volle Pulle um Hilfe geschrien, bis die starken Angler von ihrem Angelplatz zu uns rüberkamen. Scheiße! Die wussten zum Glück, wie man besoffene Leute rettet. Alina und ich dachten echt, wir müssen jetzt live beobachten, wie Menschen ertrinken. Diesen Horror werde ich meinen Lebtag nicht vergessen. Ich würde sogar sagen: Dieses Erlebnis hat Alina und mich untrennbar miteinander verschweißt. Wirklich! Auch wenn ich die Tussi manchmal für echt senil halte. Ihre Eltern sind nämlich schon total alt und machen nichts anderes, als den ganzen Tag vor dem Fernseher
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