Leviathan erwacht - Corey, J: Leviathan erwacht - Leviathan Wakes (The Expanse Series Book 1)
Kabinentür. »Haben Sie überhaupt geschlafen?«
Mit steifem Nacken blickte Miller auf. Auf der Wange und der Stirn zeichneten sich die Falten des Kissens als rote Striemen ab.
»Was?«, entgegnete Miller. »Oh … nein. Ich habe … zugeschaut.«
»Hat schon jemand mit Felsen geworfen?«
»Bisher nicht. Bis jetzt spielt sich alles in der Umlaufbahn oder weiter draußen ab.«
»Was für eine halbherzige Apokalypse veranstalten die da?«, fragte Amos.
»Lassen Sie ihnen Zeit. Es ist ja ihr erster Versuch.«
Der Mechaniker schüttelte den kantigen Kopf, doch hinter dem gespielten Widerwillen erkannte Miller die Erleichterung. Solange die Kuppeln auf dem Mars noch standen, solange die empfindliche Biosphäre der Erde nicht direkt bedroht wurde, war die Menschheit noch nicht tot. Miller fragte sich, was sich die Bewohner des Gürtels erhofften, und ob sie sich inzwischen sogar einredeten, die mühsam erkämpften ökologischen Nischen der Asteroiden könnten das Leben beliebig lange erhalten.
»Wollen Sie ein Bier?«, fragte Amos.
»Trinken Sie Bier zum Frühstück?«
»Für Sie wäre es wohl das Abendessen«, erklärte Amos.
Der Mann hatte recht, Miller musste schlafen. Seit der Sprengung des Stealthschiffs war er höchstens einmal kurz eingenickt, und selbst dabei hatten ihn eigenartige Träume heimgesucht. Er gähnte, sobald er an das Gähnen dachte, doch die Anspannung im Bauch sagte ihm, dass er vermutlich eher den Tag mit dem Ansehen der Nachrichten als mit Schlafen verbringen würde.
»Wahrscheinlich ist doch schon wieder Frühstück?«, erwiderte Miller.
»Wollen Sie ein Bier zum Frühstück?«, fragte Amos.
»Gern.«
Es kam ihm surreal vor, durch die Rosinante zu laufen. Das leise Summen der Luftrecycler, die weiche Luft auf der Haut. Die Reise zu Julies Schiff war ein Irrgarten voller Schmerzmittel und Übelkeit gewesen, die Zeit auf Eros davor ein Albtraum, der nicht vergehen wollte. Durch die freien, intakten Korridore zu wandern, wo ihn die vom Schub erzeugte Schwerkraft sachte auf den Boden drückte, wo niemand herumschlich, der ihn töten konnte, das kam ihm seltsam vor. Wenn er sich vorstellte, Julie sei bei ihm, war es nicht ganz so schlimm.
Als er aß, zirpte sein Terminal. Es war die Weckfunktion, die ihn an die nächste Blutwäsche erinnerte. Er stand auf, rückte den Hut zurecht und ging los, damit ihn wieder einmal die Nadeln und Hochdruckinjektionen malträtieren konnten. Der Kapitän war schon da und mit den Geräten verbunden, als Miller eintraf.
Holden wirkte, als hätte er geschlafen, allerdings nicht sehr gut. Unter den Augen hatte er nicht wie Miller die dunklen Ringe, die an Blutergüsse erinnerten, aber die Schultern waren angespannt, die Stirn hatte er leicht gerunzelt. Miller fragte sich, ob er den Mann vielleicht etwas zu hart angefasst hatte. Ich hab’s doch gleich gesagt war durchaus eine wichtige Botschaft, aber die Schuld am Tod so vieler Menschen, an dem Chaos und angesichts der Drohung, dass die ganze Zivilisation untergehen konnte, war vielleicht zu viel für den Kapitän.
Vielleicht war er auch wegen Naomi bedrückt.
Holden hob die Hand, die nicht von medizinischem Gerät in Anspruch genommen wurde.
»Morgen«, grüßte Miller.
»Hallo.«
»Haben Sie schon entschieden, wohin wir fliegen?«
»Noch nicht.«
»Es dürfte immer schwieriger werden, zum Mars zu gelangen.« Miller überließ sich der vertrauten Umarmung der Gerätschaften. »Falls Sie dies vorhaben, sollten Sie es bald tun.«
»Sie meinen, solange es den Mars noch gibt?«
»So ungefähr«, bestätigte Miller.
Die Nadeln schoben sich aus den Armaturen heraus. Miller blickte zur Decke und gab sich Mühe, nicht zusammenzuzucken, als sich die Kanülen in die Venen bohrten. Es stach einen Moment, darauf folgte ein leichter, dumpfer Schmerz, dann Taubheit.
»Glauben Sie, es hört wieder auf?«, fragte Holden. »Ich meine, die Erde ist doch nur in diese Lage geraten, weil Protogen ein paar Generäle oder Senatoren oder so gekauft hat, nicht wahr? Es läuft doch alles darauf hinaus, dass sie die Einzigen sein wollen, die dieses Ding haben. Wenn Mars es auch hat, dann hat Protogen keinen Grund mehr zu kämpfen.«
Miller blinzelte. Ehe er sich eine Antwort zurechtlegen konnte – ›Sie würden versuchen, den Mars komplett auszulöschen‹, oder ›Dazu ist es jetzt zu spät!‹, oder ›Wie naiv sind Sie eigentlich, Kapitän?‹ –, fuhr Holden fort: »Ach, verdammt. Wir haben die Daten, ich werde
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