Lewis, CS - Narnia 6
brach genauso abrupt ab wie eine Stimme im Radio, wenn man es abschaltet. Und im gleichen Augenblick waren sie von einem ganz anderen Geräusch umgeben. Es kam von den funkel n den Geschöpfen über ihnen, die sich jetzt als Vögel entpuppten. Sie machten furchtbar viel Lärm, aber es hörte sich eher an wie Musik – wie ziemlich moderne Musik, die man nicht gleich beim ersten Mal so ganz begreift – und nicht wie Vögelstimmen aus unserer Welt. Und trotz des Gesangs herrschte im Hintergrund eine gewaltige Stille. Diese Stille, in Verbindung mit der Frische der Luft, brachte Jill auf den Gedanken, sie müssten sich auf der Spitze eines sehr hohen Berges befinden.
Eustachius hielt immer noch ihre Hand und so gi n gen sie weiter, während sie sich nach allen Seiten u m schauten. Jill sah, dass überall riesige Bäume wuchsen. Sie sahen aus wie Zedern, waren aber größer. Doch da sie weit voneinander standen und zwischen ihnen kein Unterholz wuchs, konnte man nach links und nach rechts dennoch tief in den Wald hineinsehen. So weit Jills Auge reichte, setzte sich das Bild unverändert fort — ebene Grasflächen, hin und her fliegende Vögel mit gelbem, libellenblauem oder regenbogenfarbenem G e fieder, blaue Schatten und Leere. Kein Windhauch war in dieser kühlen, strah lenden Luft zu spüren. Es war ein sehr einsamer Wald.
Genau vor ihnen war kein Wald: nur blauer Himmel. Sie gingen schweigend geradeaus weiter, bis Eusta chius plötzlich »Pass auf!« rief und Jill zurückzog. Sie standen am äußersten Rand eines Felsens.
Jill gehörte zu den Glücklichen, denen auch in gr o ßer Höhe nicht schwindlig wird. So machte es ihr überhaupt nichts aus, am Rand eines Abgrunds zu st e hen. Sie ärgerte sich ein wenig, weil Eustachius sie z u rückzog – »Geradeso, als wäre ich ein kleines Kind!« –, und riss sich los. Als sie sah, wie schrecklich blass er geworden war, sagte sie voller Verachtung: »Was ist denn los?« Und um ihm zu zeigen, dass sie keine Angst hatte, stellte sie sich ganz nah an den Abgrund – einen Schritt näher, als es ihr eigentlich gefiel. Dann schaute sie hinunter.
Jetzt sah sie, dass Eustachius nicht ohne Grund so blass geworden war, denn auf der ganzen Welt gab es keinen Felsen, den man mit dem hier hätte vergleichen können. Stell dir vor, du stündest auf der Spitze des allerhöchsten Felsens, den du kennst. Und stell dir vor, dass du bis zur tiefsten Stelle hinunterschaust. Und dann stell dir vor, der Abgrund wäre noch einmal so tief, zehnmal so tief, zwanzigmal so tief. Und stell dir weiter vor, du würdest ganz da unten weiße Fleckchen sehen, die du auf den ersten Blick vielleicht für Schafe hieltest, bis du dann plötzlich merkst, dass es Wolken sind – keine weißen Nebelfetzen, nein, riesige weiße, bauschige Wolken, so groß wie Berge. Und schließlich würdest du zwischen diesen Wölken den ersten Blick auf den Erdboden erhaschen und der wäre so weit weg, dass man nicht sehen könnte, ob dort Felder oder Wä l der, Land oder Wasser ist. Und die Entfernung von den Wolken zum Boden wäre noch größer als zwischen dir und den Wölken.
Jill starrte hinunter. Und dann wäre sie eigentlich gern ein paar Schritte zurückgetreten; aber sie hatte Bedenken, was Eustachius wohl von ihr denken moc h te. Dann fasste sie plötzlich den Entschluss, dass es ihr egal war, was er von ihr dachte, dass sie jetzt einfach von diesem schrecklichen Abgrund wegmusste und dass sie nie mehr irgendjemand auslachen würde, der Angst vor großen Höhen hatte. Aber sie stellte plöt z lich fest, dass sie sich nicht bewegen konnte. Ihre Knie waren ganz weich geworden und alles ver schwamm vor ihren Augen.
»Was machst du denn, Jill? Komm zurück – du bl ö de Kuh!«, rief Eustachius. Aber seine Stimme schien von weit her zu kommen. Jill spürte, wie er nach ihr griff. Aber sie hatte die Herrschaft über ihre Arme und Beine verloren. Einen Augenblick lang rangen sie am Rand des Felsens miteinander. Jill hatte so schreckl i che Angst und ihr war so schwindlig, dass sie nicht mehr wusste, was sie tat. Aber an zwei Dinge erinnerte sie sich für den Rest ihres Lebens (und oft kehrten sie in ihren Träumen zurück). Das eine war, dass sie sich aus Eustachius’ Griff losriss, das zweite, dass Eustach i us im gleichen Augenblick das Gleichge wicht verlor und mit einem Schrei in die Tiefe stürzte.
Glücklicherweise hatte sie keine Zeit, darüber nac h zudenken, was sie getan hatte. Ein riesiges Tier in
Weitere Kostenlose Bücher