Lewis, Michael
eine
Katastrophe von kolossalen Ausmaßen eintreten, damit die Fed überhaupt in Erwägung
zöge, so etwas zu tun.« Abgesehen von den alarmierenden Fakten wunderte den
distinguierten Finanzhistoriker vor allem, dass er zum ersten Mal von Charlie
Ledley davon hörte. »Hätte ich je erwartet, dass Charlie Ledley die größte
Finanzkrise seit der Depression voraussehen würde?«, sagte er. »Nein«. Nicht
dass Charlie dumm gewesen wäre, keineswegs. Aber Charlie war kein Geldmensch.
»Er ist kein offensichtlich materialistischer Typ«, erklärte der Professor. »Er
ist nicht in erster Linie von Geld motiviert. Er wurde wütend. Er nahm es
persönlich.«
Dennoch
war Charlie Ledley am Morgen des 18. September 2008 überrascht. Er und Jamie
saßen normalerweise nicht vor ihren Bildschirmen und folgten den Bloomberg-Nachrichten.
Aber am Mittwoch, den 17. September, taten sie es. Die großen
Wall-Street-Banken gaben riesige Verluste durch Subprime-Hypothekenanleihen
bekannt, die ständig weiterwuchsen. Merrill Lynch hatte anfangs Verluste von 7
Milliarden US-Dollar eingestanden und gab nun zu, dass sie über 50 Milliarden
betrugen. Bei der Citigroup beliefen sie sich offenbar auf 60 Milliarden
US-Dollar. Morgan Stanley hatte einen Schlag von über 9 Milliarden US-Dollar zu
verkraften, und was sich noch dahinter verbarg, wusste niemand. »Wir hatten
das, was vorging, falsch interpretiert«, erklärte Charlie. »Wir hatten immer
angenommen, dass sie die AAA-CDOs an so was wie die Koreanische Bauernbank
verkauften. Aber die Art, wie sie alle den Bach runtergingen, zeigte, dass sie
es nicht getan hatten. Sie hatten sie selbst behalten.« Aus den scheinbar so
gewieften, eigennützigen großen Wall-Street-Unternehmen waren die unwissenden
Massen geworden. Die Leute, die diese Unternehmen leiteten, verstanden ihre
eigenen Geschäfte nicht, und ihre Regulatoren verstanden offensichtlich noch
weniger davon. Charlie und Jamie hatten immer angenommen, dass irgendwelche
Erwachsenen, denen sie nie begegnet waren, für das Finanzsystem verantwortlich
seien, aber jetzt erkannten sie, dass dies nicht der Fall war. »Wir waren nie
im Bauch der Bestie«, sagte Charlie. »Wir sahen die Leichen, die weggetragen
wurden. Aber wir waren nie drinnen.« Eine Meldung der Bloomberg-Nachrichten
fiel Jamie ins Auge und setzte sich in seinem Kopf fest: »Fraktionsführer der
Senatsmehrheit zur Krise: Niemand weiß, was zu tun ist«.
Schon
lange, bevor andere sich seiner Weltsicht anschlossen, war Michael Burry
aufgefallen, dass es etwas Morbides hatte, sein Anlageportfolio in etwas zu
investieren, was letztlich einer Wette auf den Zusammenbruch des Finanzsystems
gleichkam. Aber erst nachdem er mit diesem Zusammenbruch ein Vermögen verdient
hatte, begann er sich über die sozialen Aspekte seiner Finanzstrategie Gedanken
zu machen - und sich zu fragen, ob andere ihn eines Tages ebenso falsch
einschätzen würden, wie sie das Finanzsystem falsch eingeschätzt hatten. Am 19.
Juni 2008, drei Monate nach dem Untergang von Bear Stearns, verhaftete das FBI
Ralph Cioffi und Matthew Tannin, die Bear Stearns bankrotte Hedgefonds geleitet
hatten, und führte sie in Handschellen aus ihren Häusern ab.*
* Die Staatsanwaltschaft versuchte im Prozess gegen Cioffi
und Tannin nachzuweisen, dass die beiden ihre Anleger bewusst getäuscht hätten,
aber die Möglichkeit übersahen, dass sie schlicht keine Ahnung hatten, was sie
taten, und die tatsächlichen Risiken von CDOs mit AAA-Rating nicht erkannten.
Die Anklage stand auf tönernen Füßen und stützte sich auf einige E-Mails, die
offenbar aus dem Zusammenhang gerissen waren. Eine der Geschworenen, die Bear
Stearns' Subprime-Bondhändler freisprachen, erklärte anschließend gegenüber Bloomberg
News, sie halte sie nicht nur für unschuldig im Sinne der
Anklage, sondern würde auch bedenkenlos Geld bei ihnen anlegen.
Am
späten Abend schickte Burry seinem Anwalt Steve Druskin eine E-Mail: »Im
Vertrauen, dieser Fall belastet mich sehr. Ich mache mir Sorgen, dass ich in
meiner Sprunghaftigkeit E-Mails verschicke, die sich aus dem Zusammenhang reißen
lassen und mich in Schwierigkeiten bringen könnten, selbst wenn mein Handeln
und meine Endergebnisse völlig korrekt sind ... Ich kann mir nicht vorstellen,
wie ich es ertragen sollte, im Gefängnis zu landen, obwohl ich nichts
verbrochen habe, außer ein bisschen unvorsichtig zu sein und keinen Filter
zwischen meinen wahllosen Gedanken in schwierigen
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