Lewis, Michael
bei
Weitem nicht das nötige Kapital hatte, um die Verluste zu decken, die
entstünden, sobald US-Hausbesitzer in größerer Zahl in Verzug gerieten. Als er
dies auf einer Sitzung äußerte, wurde er zum Dank von Joe Cassano in ein
Nebenzimmer beordert und zur Schnecke gemacht. Er wisse nicht, wovon er
spreche, hieß es. Dass Joe Cassano, Chef von AIG FP, Sohn eines Polizisten war
und am Brooklyn College Politologie studiert hatte, hat rückblickend keine so
große Bedeutung wie sein Bedürfnis nach Gehorsam und totaler Kontrolle. Während
seiner Karriere hatte er die meiste Zeit - erst bei Drexel Burnham, dann bei
AIG FP - nicht als Rentenhändler, sondern im BackOffice gearbeitet. Bei AIG FP
war man sich über den Chef erstaunlich einig: Cassano war jemand mit einem nur
vagen Gefühl für finanzielle Risiken, aber einem echten Talent dafür, Menschen
einzuschüchtern, die an ihm zweifelten. »AIG FP wurde zur Diktatur«, erzählte
ein Londoner Trader. »Joe tyrannisierte seine Leute. Er demütigte sie und
versuchte, das wiedergutzumachen, indem er ihnen hohe Summen zukommen ließ.«
»Eines
Tages rief er mich an und war verärgert über einen Trade, der uns Verluste
beschert hatte«, erzählte ein Trader aus Connecticut. »Er sagte: Wenn Sie Geld in den Sand
setzen, ist das verdammt noch mal mein Geld. Sprechen Sie mir nach. Ich frage: >Wie bitte?< Sagen Sie, >Joe, es ist
verdammt noch mal Ihr Geld!< Also sagte ich >Es ist verdammt noch mal Ihr Geld,
Joe.<«
»Die
Kultur veränderte sich«, erzählte ein anderer Händler. »Die Angst war so groß,
dass wir auf diesen morgendlichen Meetings möglichst alles so präsentierten,
dass er sich nicht aufregte. Und wenn man Kritik an der Organisation äußerte,
war der Teufel los.«
Ein
vierter Trader berichtete: »Joe sagte immer: >Das ist meine Firma. Sie
arbeiten für meine Firma.< Wenn er sah, wie jemand ein Flasche Wasser in der
Hand hielt, kam er und sagte: >Das ist mein Wasser.< Wir bekamen kostenloses
Mittagessen, doch Joe gab uns stets das Gefühl, dass er es aus seiner Tasche
bezahlt hatte.« Ein fünfter Trader meinte: »Mit Joe als Chef verstummten die
Debatten und Diskussionen, die unter Tom [Savage, dem früheren CEO] üblich
gewesen waren. Ihm [Tom] hätte ich gesagt, was ich Ihnen jetzt sage. Solange
Joe nicht zuhörte.« Ein sechster: »Im Umgang mit Joe begann man jeden Satz mit
>Du hast recht, Joe<.«
Selbst
nach den Maßstäben von Wall-Street-Schurken, deren Charakterfehler am Ende so
übertrieben werden, bis sie dem Verbrechen angemessen sind, wurde Cassano mit
jeder weiteren Schilderung zur Karikatur eines immer größeren Monstrums. »Eines
Tages kam er herein und sah, dass jemand an der Kraftmaschine im Fitnessraum
die Gewichte nicht zurückgelegt hatte«, berichtete eine siebte Quelle aus
Connecticut. Da »ging er doch tatsächlich herum und versuchte, den Schuldigen
zu finden, indem er nach besonders durchtrainierten Mitarbeitern Ausschau
hielt. Er brüllte: >Wer hat die verdammten Gewichte auf der verdammten
Kraftmaschine gelassen? Wer hat die verdammten Gewichte auf der verdammten
Kraftmaschine gelassen?<«
Das
Seltsame war, dass Cassanos Zorn Trader, die Gewinn machten, ebenso traf wie
solche, die Verluste einfuhren, denn er wurde nicht durch finanzielle Einbußen
ausgelöst, sondern durch Widerstand. Noch seltsamer war aber, dass sich
Cassanos Zorn nicht im Gehalt des Betroffenen niederschlug. So konnte es
vorkommen, dass ein Trader im Laufe des Jahres immer wieder von seinem Chef
heruntergemacht worden war und sich am Jahresende dennoch über einen fetten
Bonus freuen konnte, der von eben diesem Chef angewiesen wurde. Ein Grund
dafür, dass keiner der Trader von AIG FP auf Joe Cassano losging, bevor er
seinen Hut nahm, war, dass er einfach zu gut zahlte. Ein Mann, dem Loyalität
und Gehorsam über alles gingen, hatte nur ein einziges Mittel, um diese
Verhaltensweisen einfordern zu können: Geld.
Geld
funktionierte zwar als Incentive, doch nur bis zu einem gewissen Grad. Wer am
anderen Ende der Transaktion mit Goldman Sachs stand, hätte gut daran getan, in
Erfahrung zu bringen, was Goldman Sachs genau vorhatte. AIG FP war in der Lage,
hochintelligente Mitarbeiter anzuwerben, die problemlos durchschauen konnten,
was ihre Gegenspieler bei Goldman Sachs trieben. Sie wurden jedoch durch einen
Chef behindert, der die Nuancen seines eigenen Geschäfts nur unvollständig
begriffen hatte und dessen Urteilsvermögen durch seine
Weitere Kostenlose Bücher