Lewis, Michael
Private-Equity-Branche - in der Firmen ganze Unternehmen
außerbörslich kaufen und verkaufen - hat sie beide glauben lassen, dass der
Markt für privates Beteiligungskapital offenbar effizienter funktionierte als
die Börse. »Im Private-Equity-Geschäft haben normalerweise beide Parteien einen
Berater, der sich mit dem Ganzen auskennt«, meinte Charlie. »Da gibt es
niemanden, der nicht genau wüsste, wie viel etwas wert ist. An der Börse achten
die Leute viel mehr auf den Quartalsgewinn als auf das eigentliche Geschäft.
Manche Leute tun einfach Dinge, weil sie irgendwie krank im Kopf sind.« Die
beiden waren außerdem der Überzeugung, dass es den öffentlichen Finanzmärkten
an Investoren fehlte, die über ihren Tellerrand hinaussahen. US-amerikanische
Aktieninvestoren fällten nur Entscheidungen, die den US-amerikanischen
Aktienmarkt betrafen, japanische Rentenmarktspezialisten nur solche, die den
japanischen Rentenmarkt betrafen, und so weiter. »Es gibt tatsächlich Leute,
die den ganzen lieben langen Tag nichts anderes tun, als in Anleihen von
mittelgroßen Unternehmen aus dem europäischen Gesundheitssektor zu
investieren«, meinte Charlie. »Ich glaube nicht, dass dieses Problem auf die
Finanzmärkte begrenzt ist. Ich denke, dass diese Art von Engstirnigkeit ganz
normal für den modernen Intellektuellen ist. Jeder kocht sein eigenes
Süppchen.« Die Finanzmärkte bezahlten vielen Leuten eine hübsche Stange Geld
für eng begrenztes Fachwissen und einer Handvoll klugen Köpfen geringe Summen
für den Weitblick, den es schlichtweg brauchte, wenn man Kapital über alle
Märkte verteilen sollte.
Anfang
2003 fiel also der Startschuss für das Unternehmen Cornwall Capital - was
nicht zuletzt bedeutete, dass Jamie und Charlie weitaus mehr Stunden als je
zuvor in ihrem Schuppen in Berkeley saßen, der Charlie zugleich als
Schlafzimmer diente, um über den Markt zu reden. Die beiden waren sich einig,
dass Cornwall Capital zu Höherem bestimmt war: Sie wollten nicht nur den
US-amerikanischen Finanzmarkt, sondern global jeden Markt - Aktienmärkte,
Rentenmärkte, Devisenmärkte, Rohstoffmärkte - nach Ineffizienz durchforsten. Zu
diesen überaus ehrgeizigen Zielen gesellte sich schon bald ein weiteres,
nachdem sie mehr oder minder zufällig auf ihre erste riesige Chance gestoßen
waren, nämlich das Kreditkartenunternehmen Capital One Financial.
Capital
One war wohl eine Ausnahmeerscheinung unter den Unternehmen, da es einen
cleveren Weg gefunden zu haben schien, Kredite auch an Amerikaner mit einer
schlechten Kreditauskunft vergeben zu können. Capital One verdiente sein Geld
mit Kreditkarten, nicht mit Eigenheimhypotheken, und hatte dabei mit genau der
sozioökonomischen Gesellschaftsschicht zu tun, deren Hypothekendarlehen nur
wenige Jahre später in der Katastrophe führen sollten. Von den neunziger Jahren
bis Anfang 2000 behauptete das Unternehmen - und das sehr überzeugend -, dass
es bessere Instrumente als andere Unternehmen besitze, mit deren Hilfe sich zum
einen die Kreditwürdigkeit von zweitklassigen Kreditkartenbesitzern
analysieren und sich zum anderen der Preis für das jeweilige Kreditrisiko
berechnen ließe. Ende der neunziger Jahre war das ein harter Brocken für die
Branche, was so manchen der Konkurrenten von Capital One in den Konkurs trieb.
Doch dann, im Juli 2002, brach der Kurs seiner Aktien ein - und verlor
innerhalb von zwei Tagen 60 Prozent an Wert, nachdem die Geschäftsleitung von
Capital One hatte unumwunden zugeben müssen, dass sie sich nicht einig sei, wie
viel Kapital sie aufnehmen müsse, um Rücklagen für potenzielle Verluste im
Subprime-Segment gemäß den Vorgaben ihrer beiden Regulierungsbehörden, die Sparkassenaufsichtsbehörde
und der US-Notenbank, zu bilden.
Mit
einem Mal hegte der Markt die Befürchtung, dass Capital One doch nicht cleverer
war als all die anderen Unternehmen, was die Vergabe von Krediten anbelangte,
sondern dass es dem Unternehmen nur besser gelungen war, seine Verluste geheim
zu halten. Die Regulierungsbehörden hatten wohl einen Betrug aufgedeckt,
mutmaßte der Markt, und waren dabei, Capital One dafür zu belangen. Haufenweise
Indizien schienen zur Überführung des Unternehmens ausreichend. So ließ beispielsweise
die US-Börsenaufsichtsbehörde verlauten, dass sie gegen den kurz zuvor
zurückgetretenen Finanzchef von Capital One Ermittlungen durchführe, da er
seine Firmenanteile zwei Monate, bevor der interne Disput mit den
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