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Lewitscharoff, Sibylle

Lewitscharoff, Sibylle

Titel: Lewitscharoff, Sibylle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Apostoloff
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der Stuttgarter Markthalle den besten Schafskäse,
der in der Bundesrepublik zu kriegen war, aber die Differenz zum mythischen
Original war groß.
    Nicht
zu vergessen die Stadtwohnungsvariante. Sie spielt im Sommer in verdunkelten
Wohnungen mit üppigen Vorhängen, wo die Männer, Hüter einer bürgerlichen
Existenz, hinter bedeutenden Schreibtischen hocken. Die Männer tragen
reichbestickte Samtröcke, einige wenige, die der osmanischen Tradition treu
geblieben sind, haben einen Filzkegel mit Quaste auf dem Kopf. Samtportieren
über den Türen. Orientalische Teppiche auf den Böden. Manchmal, heimlich,
stiehlt sich so ein Hüter der Familie in die Wohnung einer Kokotte und
verursacht einen Skandal.
    Als
sadistische Dreingabe folgt die berühmte Greuelgeschichte von Alexander
Stamboliski, dem unglücklichen Premierminister, der 1923 von einer
undurchsichtigen Clique aus Militärleuten, Freimaurern und Mazedoniern ermordet
wurde. Kopf abgeschlagen und in einer Keksdose nach Sofia geschickt. Hände, die
den Schandvertrag von Nisch unterzeichnet
hatten, abgehackt und verscharrt. Natürlich war einer der schimärischen
Verwandten dabeigewesen, just als der Deckel von der Dose abgehoben wurde, und
zwar der sagenhaft gefährliche und sagenhaft bärtige Großonkel von Iwan
Nedewski, unserem sanftmütigen, dicklichen Autohändler vom Olgaeck, dessen
Wangen so zart und rosa schimmerten wie die Backen eines Pfirsichs.
    Wild
sind die Bulgaren in ihrer Phantasie. Jahrhundertelang wollen sie wilder
gekämpft haben als alle Balkanvölker zusammen. Ihr Phantasieorganismus kümmert
sich nicht um Zahlen und Wahrscheinlichkeit. Liest man genauer nach, stellt
sich heraus, sie haben beharrlich gegärtnert und Handel getrieben (was sie
sympathisch macht, aber gerade das ist ihnen selbst eher unsympathisch). Die
Turbulenzen der jüngeren Geschichte halten sie von ihrer Phantasie fern.
    Es
fehlen: die deutsche Wehrmacht und die SS. Es fehlt: die russische Armee.
    Es
fehlt: die Zerstörung des Landes, der Städte und der Dörfer durch das
Sowjetsystem.
    Die
letzten siebzig Jahre scheinen sich für phantastische Ausschmückungen wenig zu
eignen. Bulgarien, wie es ist, kommt in den Köpfen der Bulgaren kaum vor. Nur
ihre Leiber sind darin gefangen.
    Als
hätte die Vorstellung des zerrauften, geknickten Bulgarien mich für immer
gelähmt, so kraftlos sitze ich auf der Bank. Was will ich denn überhaupt hier?
Es weht ja immer noch ein unangenehmer, nicht kalter, nicht warmer Wind. Wie
schwierig alles erscheint, nur das Unglück der Bulgaren scheint
unwiderleglich, selbst wenn die Bulgaren in den seltenen Momenten, da sie
aufwachen, von ihrem Glück faseln wie Trunkene.
    Das
Glück der Großeltern ist so ein schwindelerregender Fall.
    Sie
galten als glückliches Paar. Philemon und Baucis auf einer Parkbank im
Doktorgarten, Tauben fütternd, putt-putt, tschiep-tschiep, schaut her, ihr
unglücklichen Paare auf der ganzen Welt, wie sich Nadja und Lubomir an den
Staubbädern der Spatzen weiden, über ihren Scheiteln die funzelnden Sparlichter
genügsamer Greise. Mit großer Zähigkeit hielt die bulgarische Familie an
dieser Legende fest, bekräftigte sie immer wieder mit der Formel vom mustergültig
glücklichen Paar.
    Rumen
hatte unseren Großvater zum Paten, er kannte die Großeltern von klein auf und
verbrachte unzählige Nachmittage bei ihnen, bis seine Familie in einen anderen
Stadtteil zog. Ihm haben wir es zu verdanken, dass wir allmählich mit einer
anderen Version bekannt wurden. In Stücken rückte er damit heraus, was ihn
einige Überwindung kostete.
    Seltsam
waren sie nämlich, selbst in den Augen eines pietätvollen Bulgaren, der aus
empfindsamen Landesgefühlen heraus gewisse Dinge ungern an Frauen aus dem
Ausland verrät, schon gar nicht an eine böse wie mich.
    Seltsam,
sehr seltsam sogar. Die Großeltern wohnten damals in Sofia, in einem der in
den sechziger Jahren hochgezogenen Wohnkomplexe am Boulevard Lenin, oben im
siebten Stock. Unten auf der sechsspurigen Bahn floß der Verkehr, oben unter
dem Dach, brüllheiß im Sommer, in einer winzigen Zweizimmerwohnung, hockten die
Großeltern. Auf dem umlaufenden Balkon hoppelten Kaninchen; in den vom
Großvater gezimmerten Kästen gurrten die Tauben. Ein puppengroßes gekacheltes
Bad war das Kleinod der Wohnung, denn aus der Dusche kam warmes Wasser, ein
Luxus.
    Alle
- die Nachbarn, Apostoloff als Bub, etliche Freunde, die Schwestern der
Großmutter und deren Männer, die Tochter und

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