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Lewitscharoff, Sibylle

Lewitscharoff, Sibylle

Titel: Lewitscharoff, Sibylle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Apostoloff
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(wie eifrig die betuliche Streberstimme, wie eifrig der von einem zum
andern sich wendende Kopf mit dem wippenden Haar) - man nennt es in Bulgarien
wohl das Jahr des Heils (ach was, ein anderes Wort drängelt sich nach vorn und
will raus: Strauchtomate, man
nennt es wohl das Jahr der Strauchtomate) - weil es der Anfang von allem war,
oder etwa nicht? Also, wann war das denn genau? War Bulgarien nicht eigentlich
ein Spätzünder in Sachen Christentum? (Ja, du Strauchtomate, für diesen Stuss
hättest du eine Ohrfeige verdient.)
    1981
minus dreizehnhundert.
    Das
war Rumen. Er schnipst die Asche von seiner Zigarette.
    Meine
Schwester hebt den Kopf und nimmt Stimmfühlung auf. Sie kann sogar wieder
ganze Sätze sagen, wenn auch nur zu mir und nicht zu Rumen. Von Boris wisse
man, dass er seinen ältesten Sohn habe blenden lassen, den, der ursprünglich
zum Thronfolger bestimmt gewesen sei. Scheußlich, was? Den eigenen Sohn blenden
lassen?
    Scheußlich,
von mir aus, sagt Rumen (separat zu mir). Aber der Sohn wollte alles verderben.
Wollte zurück zum Heidentum. Heidentum, alles wie gehabt. Konnte Boris nicht
zulassen. Der eigene Sohn zerstört das Werk des Vaters. Jüngerer Sohn war der
bessere Sohn, so was gibt's. Jüngerer Sohn, besserer Sohn. Kommt schon in der
Bibel vor. Ich auch - jüngerer Sohn. Besser für die Thronfolge. So blieb
Bulgarien christlich.
    Er
spricht seltsam abgehackt, er ist noch nicht wieder unser alter, leutseliger
Rumen, sondern ein Mann, der seine Gekränktheit hinter einer rauhen Stimme
verbirgt.
    Ich
erfahre plötzlich einen Glücksschub, eine Lüpfung. Während die Kellnerin uns
das Essen bringt, überkommt mich wieder ein Mitteilungsdrang, der mich nervös
mit dem Besteck herumfuchteln lässt: Wisst ihr eigentlich, was man sich vom
bulgarischen Himmel erzählt? (Die Zinken der Gabel weisen zuckend nach oben.)
Schon bei der Herfahrt ist es mir durch den Kopf gegangen. Denkt euch den
bulgarischen Himmel als einen von den Erdumrissen des Landes ausgehenden, sich
in den Luftraum ausbreitenden Trichter (das Messer zeichnet ein irres
Kritzkratz auf den Tisch). Denkt euch hoch hinauf, sehr hoch, wo eure Augen
nicht hinreichen, genügend weit weg vom Elend des Landes, wo Bulgarien nicht
mehr nach Bulgarien riecht, wo nichts mehr an den nassen Fuchsmief erinnert,
gemixt mit dem Stank von WC-Steinen und billigen Rasierwassern - hoch oben in
reiner Luft (ich will mit dem Kopf immer höher hinauf, halte dabei die Augen
geschlossen und atme tief durch) - da knackt's und knirscht's, hört ihr? -
immerzu - Knacken und Knirschen, weil die Engel mit ihren großen Flügeln eng
nebeneinanderstehen - der ganze Himmel stopfvoll mit Engeln, wovon sich Chöre
erheben, Chöre sich setzen, Chöre entkräftet nach unten zu liegen kommen, und
unaufhörlich geraten ihre großen Flügel durcheinander, verfitzen sich
ineinander, der ganze bulgarische Himmel ist voller goldflammender Flügel, die
knacken und knirschen, man hört das Geräusch sogar durch den Lobgesang
hindurch, der natürlich ebenso unaufhörlich ertönt, da immer einige Chöre am
Singen sind.
    Ich
lege das Besteck nieder und nehme einen Schluck Wasser.
    Es
gibt auch ein mexikanisches Flügelwunder, vielleicht habt ihr davon gehört. Im
Grunde sieht es in der Sierra Madre nicht viel anders aus, wenn dort der
Monarchfalter überwintert. Die hochgelegenen Täler voll mit Millionen und
Abermillionen von Faltern, eine orangefarbene, schwarzgeäderte Flügelmasse.
Weiße Punkte dazwischen, Abermillionen weißer Flimmerpunkte, immer sachte in
Bewegung. Die Aste, die Baumstämme, die bemoosten Böden, alles dicht an dicht
bebüschelt, die Falter hocken sogar auf Farnwedeln, hin und wieder flattern sie
träge auf, um die Mittagszeit, wenn der Sonnenschein ihre Lebensgeister weckt.
Aber weshalb so viele Engel im bulgarischen Himmel? Na, was denkt ihr?
    Ich
lege eine Kunstpause ein, während deren mich Rumen mit zusammengezogenen
Brauen anstarrt.
    Weil
sich die Bulgaren so intensiv um die Verbreitung des Christentums gemüht haben,
dass ein Engelgeschwader nach dem anderen in den bulgarischen Himmelsraum verlegt
wurde, um den Kampf von oben her zu unterstützen, quasi durch eine
Sängerschlacht!
    Iss
bitte deinen Engelsalat und sei eine Weile still, sagt meine Schwester.
    Rumen
hat mich die ganze Zeit über angesehen, als hätte ich einen Dachschaden. Meine
Schwester hat sich nicht vom Zerschneiden ihrer Pizza abhalten lassen, sie
klärt Rumen über meinen Zustand

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