Lewitscharoff, Sibylle
am
Gartentor unseres Hauses in Degerloch statt. Es hätte krummer nicht laufen
können. Sie war alt und durfte reisen, allerdings nicht mit ihrem Mann. Zum
ersten Mal war es einem bulgarischen Familienmitglied gelungen, den Eisernen
Vorhang hinter sich zu lassen. Entsprechend nervös waren wir alle, besonders
unser Vater.
Ein
siebenjähriges Kind war ich, Feuer und Flamme für den unbekannten Gast. Ich
erwartete eine ähnlich wunderbare Großmutter, wie die schwäbische eine war,
natürlich eine Spur exotischer, feenhafter, vielleicht jünger? Auch der Name
der bulgarischen Großmutter klang verlockend: Nadja - so ein heller Zaubername für ein flinkes,
seidenraschelndes Tuschelgeschöpf. Schon seit Monaten wollte ich unbedingt
ihren Namen annehmen und meinen eigenen loswerden. Für die Prozedur sparte ich
Geld.
Entsetzlich!
Eine kinderkleine, in einen absurden wollenen Umhang gewickelte Alte, der
unser Vater gerade beim Aussteigen geholfen hatte, trippelte auf mich zu.
Gellend klangen mir ihre Schreie in den Ohren, während sie mich an sich presste
und küsste. Am schlimmsten war der Geruch: Rosenöl, Kampfer, Verwesung,
Pygmäenwurz.
Eine
wahre Abneigung wird blitzartig gefasst. Sie brennt sich ein wie ein Mal, bei
jeder neuen Begegnung steht das Mal wieder in Flammen. Daran konnten auch ihre
riesigen schwarzen Augen nichts ändern, mit denen sie mich flehentlich ansah.
Sobald die Großmutter in meine Nähe kam, verdrückte ich mich oder rannte weg. Obwohl
ihr Geruch im Lauf der nächsten Tage anders wurde - sie entwickelte den Tick,
sich jede halbe Stunde mit Nivea einzucremen, und schleppte die blaue Dose
immer mit sich herum; nivearüchig das ganze Haus alsbald, als läge in jedem
Zimmer ein Pfund davon offen herum.
Meine
Schwester konnte die neue Großmutter so wenig leiden wie ich, aber sie rannte
vor den Liebkosungen nicht davon, sondern ertrug sie mit verzerrtem Gesicht.
Vom Wunsch, Nadja zu heißen, war nur noch das Geld übrig. Ich kaufte einen
Frosch.
Ein
glückliches Paar
Die gestorbenen Bulgaren, die wir in unserem Tross mitführten,
passen nicht recht zu den Bulgaren von heute. Schon gar nicht passen sie zu
denen, die hier auf den Bänken herumsitzen. Sehr für sich bleiben auch die
vielen Figuren, die in den Geschichten der Bulgarienfahrer während der Reise
aufkreuzten. Wie ein Schwarm Mücken umflogen sie unsere Köpfe auf der großen
Fahrt; sie begleiteten uns von Zürich nach Mailand, von Mailand nach Ancona,
von Ancona über das Meer nach Igoumenitsa, und von Igoumenitsa auf dem Landweg
bis nach Sofia.
Rechnen
wir mal nach. Von den vierzig leibhaftigen Bulgarienfahrern hatte jeder im
Schnitt vielleicht fünfzehn Geistleute um seinen Kopf zirkulieren, das mochten
selbst erinnerte oder vom Hörensagen erinnerte sein, also grob gerechnet
sechshundert tote, aber mit einiger Schwungkraft um uns kreisende
Begleitpersonen, darunter etwa hundert beharrliche Flieger, der Rest drehte nur
wenige Runden, war schneller wieder verloren als gekommen.
So
flüchtig sich dieser Schwarm mal mehr in der Nähe, mal in der Ferne hielt, so
stereotyp war das Dekor, aus dem die Erinnerten hervorgingen, um sich mit Hilfe
der Wörter, mit denen wir sie drapierten, eine Weile zu behaupten. Es gab im
Grunde nur drei oder vier Varianten.
Das
Fischerdorf. Netze und Boote und weinüberrankte Innenhöfe gehören zu diesem
Tableau. Das Meer ist blau. Ein schläfriger Wasserfriede aus Sonne, Meer,
Fisch, Wein, Schatten breitet sich über die Verwandten. Sie liegen nicht wie
moderne Sommerfrischler halbnackt am Strand. Allenfalls die Schuhe und
Strümpfe werden ausgezogen und die Hemdsärmel aufgekrempelt. Die Frauen
patschen mit bloßen Füßen im Wasser, ihre ballonhaft geblähten Röcke unter den
Knien festhaltend. Schwimmen können sie nicht. Ebensowenig die Männer.
Auf
dem Lande. Hier ist es glutheiß. Die Leute schaffen und reiben sich mit weißen
Tüchern den Schweiß von den Stirnen, stopfen sich die Tücher unter ihre Hüte
oder ihre Hauben. Mais, Sonnenblumen, Hühner, Ziegen, Schafe, Esel. Kinder
wuseln herum. Die Tomaten sind nahe am Explodieren. Die schwarzen Oliven
glänzen. Sie werden mit der Messerspitze aufgespießt. Der Schafskäse krümelt
nicht. Er ist glatt, feucht, feinporig, frisch, er leuchtet in lammhafter
Unschuld, ist weder versalzen noch verwässert. Seine Substanz ist überirdisch.
Kein Schafskäse der Gegenwart reicht an ihn heran. Sicher, Koljo Wuteff
verkaufte an seinem Stand in
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