Lewitscharoff, Sibylle
auf.
So
was kommt bei ihr mindestens einmal die Woche vor, es hat weiter nichts zu
bedeuten, man muss einfach warten, bis es vorbei ist.
Ich
gehorche, stochere im Salat und sage vorläufig kein Wort mehr. Durchaus im
Recht ist meine Schwester mit der Beschreibung meines Zustandes, aber die
wahren Gründe für mein Verhalten kennt sie nicht. Aus gedrückter Lage komme
ich nur heraus, wenn ich alles verleugne, was mich umgibt. Die einfachste
Methode ist, geistig zu entweichen, und zwar geradewegs empor, stracks hinauf
in den Himmel. Die erstbeste aufgelesene Geschichte kommt dann gerade recht,
ich schnappe mir das erstbeste Wort, das nicht von Hässlichkeit und Schmutz
verseucht ist, es rettet mich, ich klammere mich daran und schwätze um mein
Leben.
Wenn
ich als Kind allein mit dem Vater im Zimmer war und er in seiner brütenden,
zusammengesackten Haltung vor mir hockte, kam eine gesteigerte Geschäftigkeit
über mich, ich fing wie verrückt an zu plappern und zu trällern und auf einem
Bein zu hüpfen, als hinge alles davon ab, einen Shirley-Temple-Wettbewerb des
Frohsinns zu gewinnen. Papa! Papa! Schau mal, wie ein Frosch macht! Schau mal,
wie eine Amsel fliegt! Nun, heute sind es nicht mehr Frösche und Amseln, heute
sind es die christlichen Konstrukteure, mit deren Hilfe ich entweiche in einen
konsequent durchorganisierten Himmel, einen schwäbischen Ingenieurhimmel,
sauber, ordentlich, ein jeder Engel an seinem Platz, mit einer schlau
eingebauten Chaoskomponente allerdings, damit es nicht fad wird, denn dieser
Himmel ist übervoll, er quillt über von singenden, lobpreisenden, hin und her
flitzenden Engeln.
Obwohl
wir beim Kaffee entspannter zusammensitzen, ist noch nicht wieder alles gut.
Wir beschließen, uns für zwei Stunden zu trennen und die Stadt jeweils allein
zu erkunden.
Bestimmt
wäre es das beste, in die Tombul-Moschee zu gehen, wahrscheinlich das einzige
Bauwerk, das in Schumen eine Besichtigung lohnt. Ich fürchte aber, einer von
den anderen könnte auf dieselbe Idee gekommen sein, deshalb streune ich nur in
den deprimierenden Nebenstraßen herum - aufgebrochene Bürgersteige und kein
Durchkommen, weil niemand die Autobesitzer hindert, bis an die Hauswände
heranzuparken. Grindiger Beton, Müll, Rost, Krimskrams, ein Katzenkadaver, so
ein dreckiges, gehudeltes Fellhäufchen, sehr für sich, und kein Totenlicht
brennt neben ihm. Bessere Aussicht weiter hinten? Immerhin, jemand mit
Scheuerlappen und Eimer. Ich kehre trotzdem um und bin gleich wieder auf der
Hauptstraße, da ist noch Platz auf einer Bank.
Dort
halten die armen Leute Wache, auseinandergerückt und verschlossen, Männer in
sterchen Kunstlederjacken mit schweren, roten Händen, Frauen, meist schwarz
gekleidet, mit großen Taschen vor den Bäuchen, beide Geschlechter auf die Bänke
gehext als stumme Zeugen des allgemeinen Unglücks. Ein Mann produziert Schleim,
ist aber so höflich, ihn in seinem Taschentuch verschwinden zu lassen. Wir
sind hier nicht in einer Komödie, zum Lachen ist kein Anlass, alle Leute wirken
wie Leute, die sich selbst als Gestrandete sehen. Ihre Hoffnungen sind
eingeschrumpft, versiegt ist der sprudelwarme Quell der Jugend, als der Sozialismus
noch knackig wirkte und sich die Komsomolzenblusen während der Paraden
blähten.
Von
weit her Händlerrufe, die uns nichts angehen. Die Leute beachten mich weiter
nicht und lassen sich ruhig bestaunen.
Zierliche
Mädchen schlendern vorüber, manche hübsch, alle erbärmlich angezogen. Aus dem
allgemeinen Ramsch haben sie sich die nuttigsten Fetzen gegriffen. Gehen Männer
an ihrer Seite, so sind es die Ringertypen mit öligem Haar und Pferdeschwanz,
bis unters Kinn tätowiert, so breit wie hoch. Offenbar haben beide Geschlechter
nur jeweils einen Code zur Verfügung. Die Frauen signalisieren: wir sind
Huren, die Männer: wir sind brutal. Während der gesamten Reise ist uns noch
keine einzige elegante Frau begegnet und kein einziger Mann in einem gut
geschnittenen Anzug.
Gegenüber
sitzt ein altes Paar, er groß, sie klein. Wahrscheinlich sind sie schon eine
Ewigkeit zusammen, es gibt nichts mehr zu reden. Genau wie bei unseren
Großeltern, nur dass der Großvater mit seinem stahlgrauen und später weißen
Haar besser aussah und der Kontrast zwischen großem Mann und kleiner Frau noch
auffälliger war. Unser Großvater war nämlich sehr groß, die Großmutter neben
ihm winzig.
Die
Großmutter lernten wir Anfang der sechziger Jahre kennen. Die Begegnung fand
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