Lewitscharoff, Sibylle
wilde Art gut aussieht.
Auch
sie hatte durchaus ihre Reize. Ein zauberhaftes Photo zeigt ein bleiches
Stummfilmgesicht mit Riesenaugen und einem Mund, kaum größer als der Nabel
einer Orange. Es ist etwas Geziertes um die junge Frau, man sieht ihr an, sie
wird niemals mit festen, geraden Schritten durch die Welt laufen, sondern
immerzu trippeln.
Die
Geschichten aus der Jugend unserer Großeltern wollen nicht mit der
kleinteiligen Enge zusammengehen, in der sie viele Jahrzehnte ihres Lebens
fristeten. Sie wurden beide sehr alt, erst starb die Großmutter mit
fünfundneunzig Jahren und danach der Großvater mit achtundneunzig Jahren.
Sie
stammte aus einer vermögenden Kaufleutefamilie aus Plovdiv und war die jüngste
von vier Schwestern. Er stand unter der Fuchtel seiner Mutter, einer resoluten,
machthungrigen Frau, die hundertundneun Jahre alt wurde, Lehrbücher schrieb
und an der Einführung des Grundschulsystems in Bulgarien während der Wende zum
zwanzigsten Jahrhundert mitwirkte. Sein Vater hatte einige Semester Philosophie
in Leipzig und Wien studiert, wovon eine kleine Bibliothek zeugt, die ich
geerbt habe. Rostbraune und blaugrün gesprenkelte Pappbände, Seite um Seite
randvoll mit Notizen des Urgroßvaters, geschrieben mit spitzest-möglichem
Bleistift in exakter lateinischer Schrift.
Der
Sohn verschleppte die Braut, ohne dass Geld in seinen Taschen gewesen wäre. Er
begann das abenteuernde Leben eines Tunichtguts, der das Lernen verweigert
hatte, sich aber langsam fing und emporarbeitete. Erst im Straßenbau, dann als
Prokurist, schließlich, als Direktor einer Genossenschaftsbank, brachte er es
sogar zum zweiten Bürgermeister seines Heimatortes Pasardschik, bis mit der
Machtübernahme der Kommunisten alles ein jähes Ende fand. Er kam ins Gefängnis
und wurde anschließend in einen Steinbruch geschickt, wo ihm nach Jahren harter
körperlicher Arbeit die bescheidene Stelle eines Buchhalters zugewiesen wurde.
Danach kamen dreißig Jahre Rente, die so karg ausfiel, dass Kinder und
Schwiegersöhne helfen mussten, um die Großeltern über die Runden zu bringen.
Wie
es bei der Verwandlung eines Raufboldes in eine prüde, eifernde Buchhalterseele
zugegangen sein soll, der vom Leben auf dem Lande ä la Tolstoi träumt, darüber
gibt es keine Erzählungen. Selbst den engsten Verwandten ist die Verwandlung
nicht erklärlich, und darum bleibt der Lebenslauf des Großvaters zu weiten
Teilen im Obskuren. Mir kommt es so vor, als spiegele sich etwas von der beklemmenden
Geschichte Bulgariens darin, der radikalen geistigen Schrumpfung ins Enge,
Paranoide, Kassenwarthafte.
Als
Wärter eines ingeniösen, von ihm selbst konstruierten Kästchens endete der
Großvater. Diesen allerletzten Posten hatte er über fünfundzwanzig Jahre inne.
Seine Sorge galt dem Aufzug in dem Gebäude, in dem er wohnte. Um das nötige
Geld für die Wartung einzutreiben, baute er einen kleinen Kasten, den er
oberhalb des Türknaufs anbrachte. Nur wenn man eine Münze einwarf, ließ sich
die Tür entriegeln und der Aufzug benutzen. Auch darüber führte der Großvater
Buch. Lange Listen verzeichnen die gesammelten Beträge und die alle paar Jahre
nötigen Ausgaben für die Instandsetzung. Seitdem der Großvater tot ist und
niemand Geld für die Wartung eintreibt, ist das Ding so verkommen, dass man
nicht mehr damit fahren kann.
Nicht
weniger rätselhaft ist die Metamorphose der Großmutter. Aus einem verwöhnten
jungen Ding, das so gut wie keine Ausbildung besaß, schon gar keine praktische,
wurde eine verängstigt herumhuschende Sklavin, die sich vor den
Tobsuchtsanfällen ihres Mannes fürchtete, noch viel mehr aber vor dessen
Mutter, in deren Haus sie alsbald gezwungen war zu leben.
Die
Schwiegermutter hatte das Heft in der Hand und hasste die junge Frau, die sie
für unfähig hielt, eine lästige Idiotin, nur dazu da, angeherrscht zu werden.
Von der Urgroßmutter behaupten die Verwandten steif und fest, sie habe Hühner
mit dem Schwert geköpft, und zwar noch im hohen Alter. Mir erscheint das wenig
glaubhaft. Hühner mit dem Schwert köpfen? Geht das denn? Auch wenn die
Geschichten reichlich übertrieben sind - am gnadenlosen Charakter der Herrin
über ein kleines Haus mit Veranda, Küche, fünf Zimmern und einem Hof mit Schuppen,
Stall und Gemüsebeeten besteht kein Zweifel.
Jackie
Die Kellnerin ist zauberhaft.
Ein schmales Wundermädchen mit mandelförmigen Augen und langen, sehr langen,
aber echten Wimpern. Sie ist
Weitere Kostenlose Bücher