Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lewitscharoff, Sibylle

Lewitscharoff, Sibylle

Titel: Lewitscharoff, Sibylle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Apostoloff
Vom Netzwerk:
deren Mann mitsamt Kindern - kamen
regelmäßig zum Duschen in die Wohnung der Großeltern.
    Duschte
der Schwiegersohn, duschten die beiden Enkel, duschte der kleine Apostoloff,
hielt es die Großmutter nicht lange im Wohnzimmer. Sie wurde hektisch, fing an
zu murmeln, dann öffnete sie die Tür zum Bad, um die Männer und Buben in ihrer
Nacktheit zu bestaunen. Regelmäßig wurde sie vom Schwiegersohn angeherrscht.
Sofort zog sie sich zurück, schloss die Tür so leise, als wäre da nicht mehr
als ein Luftzug unterwegs gewesen, ging aber schon in der nächsten Woche wieder
auf die Pirsch.
    Mit
einem Wort: sie war nicht bei Trost. Murmelte vor sich hin, verdrehte die
Augen, dass man nur noch das Weiße sah, bekreuzigte sich unentwegt,
verwechselte die Namen auch der nächsten Angehörigen, obwohl sie keineswegs
dement war, tappelte immerzu ruhelos durch die Gegend, zupfte an den Leuten
herum, ließ niemanden in Ruhe. Dennoch hieß es, Großvater
und Großmutter waren ein glückliches Paar.
    Er:
war prüde. Ihn beschäftigten unentwegt Ermahnungen an die Jugend. Er war
graphoman, schrieb wie ein Rasender.

Sie:
hasste es, wenn er schrieb.
    Er:
trieb jeden Morgen Gymnastik mit kleinen Hanteln, um in Form zu bleiben.
    Sie:
redete auf ihn ein, während er mit seinen Hanteln auf dem Fußboden lag.
    Er:
hasste es, wenn sie ihn bei seiner Gymnastik störte.
    Sie:
liebte Ikonen und hing inbrünstig an der orthodoxen Kirche.
    Er:
verachtete jede Religion als eine abergläubische, rückständige Geisteshaltung.
Ikonen waren ihm zuwider.
    Sie:
trippelte wie ein Vogel und ermüdete schnell.
    Er:
ging mit langen Schritten und legte große Ausdauer beim Gehen an den Tag.
    Sie:
hasste es, wenn er wegfuhr, was selten genug vorkam. Wenn aber doch, so kam ihr
theatralisches Talent voll zum Zuge. Nie gesehene Krankheiten blühten, sie
bekam Herzrasen, konnte nicht mehr atmen, musste vom Notarzt ins Krankenhaus
gefahren werden, wo man sie nach drei Tagen ergebnislosen Herumdokterns wieder
entließ.
    Er:
wetterte gern. In Leserbriefen. In Briefen an die philatelistische Gemeinde.
In Briefen an die esperantistische Gemeinde. In Briefen an die
kaninchenzüchtende Gemeinde. Im Tagebuch.
    Sie:
hasste es, wenn er schrieb.
    Generell
wetterte er gegen den Sport, da sich dieser zu sehr der Vergnügungssucht widme.
Ebenso wetterte er gegen die Schlagersänger, da sie niedere Gesinnungen beförderten.
Überhaupt wetterte er gegen Massenkonsum jeglicher Art. Der Konsumismus war
eine Seuche, ein Fall von Korruption, der aus dem Westen kam und auf den Kommunismus
übergriff. Seine Sorge wirkte insofern abenteuerlich, als er niemals Kommunist
gewesen war, sondern radikaler Tolstoianer. Das einfache, gerechte, ländliche
Leben, danach strebte er. Ein Leben ohne Gewalt und vor allem ohne Religion,
zumindest keine kirchlich organisierte. Wo hörte das natürliche Bedürfnis auf,
wo begann der verweichlichende Luxus? Solche Fragen beschäftigten ihn
unaufhörlich.
    Soweit
das Konstrukt eines Paares, wie es sich aus Erzähltem erschließt, kaum aus
eigener Erfahrung. Mit neun Jahren, als ich zum ersten Mal nach Bulgarien
mitgenommen wurde, lernte ich den Großvater kennen. In der Gebäudeeinheit Sieg
der Zukunft präsentierte sich ein Bilderbuchgroßvater.
Würdevoll, schlank, sich sehr gerade haltend, ein Mann von zurückhaltend gütigem
Wesen, wie es schien. Unerschütterlich.
    Seit
Tagen trage ich eine Mappe mit mir herum, die Rumen uns übergeben hat. In ihr
liegen einige vom Großvater beschriebene Papiere mitsamt Übersetzungen, die von
Rumen stammen, dazu ein Bündel Photos, die uns die Familie überlassen hat.
    Dieser
abscheuliche Wind! Man muss die Blätter festhalten, damit sie nicht fortgeweht
werden. Noch Zeit für einen Kaffee. Schräg gegenüber befindet sich ein Lokal
mit abschirmendem Vorbau. Fast alle Tische sind frei, und ausnahmsweise spielt
keine Musik.
    Das
Papier, das der Großvater verwendet hat, zeugt von Armut. Es ist holzhaltig,
und sein Zerfall hat schon begonnen. Weil auch bei schlechter Ware Knappheit
herrschte, ist die gesamte Blattfläche, Vorder- wie Rückseite, engzeilig
ausgenützt.
    Holzfällertyp.
Burt Lancaster mit buschigen Augenbrauen.
    Der
Großvater soll in seiner Jugend ein jähzorniger, rauflustiger Tyrann gewesen
sein, ein Anarchist, der sein Mädchen mit Gewalt entführte, um es gegen den
Willen beider Elternhäuser zu heiraten. Die Photos in der Mappe erwecken den
Eindruck von einem starken Mann, der auf eine

Weitere Kostenlose Bücher