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Lewitscharoff, Sibylle

Lewitscharoff, Sibylle

Titel: Lewitscharoff, Sibylle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Apostoloff
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Monster von einem Tagebuch. Er schrieb und schrieb und schrieb.
Tausend Seiten? Zweitausend Seiten? Fünftausend? 1965 hörte er damit auf. Unterschied
zwischen einem scheinbaren Freispruch und einem wirklichen lautet
die letzte Eintragung mitten auf der Seite.
    Danach
blieb die Seite frei.
    Als
er die Nachricht vom gewaltsamen Tod seines ältesten Sohnes in Deutschland
erhielt, war der Großvater vierundsechzig Jahre alt. Er ließ sich einen Bart
wachsen, was gerade bei ihm, einem Mann, der auf eine peinlich exakte Rasur
hielt und zweimal täglich zum Messer griff, sehr ungewöhnlich gewirkt haben muss.
Nach vierzig Tagen, der üblichen strengen Trauerzeit, kam der Bart wieder ab.
Er, der eingefleischte Atheist, ließ sogar eine Totenmesse für seinen Sohn
lesen.
    Während
all der vielen Jahre, die er noch zu leben hatte, verbrachte er den Todestag
seines Sohnes immer auf dieselbe Weise. Frühmorgens stand er auf, zitternd vor
Kummer, aß nichts, sprach nicht und verließ das Haus, worauf er gegen Abend
nach einem langen Gewaltmarsch zurückkehrte und sich schweigend, ohne einen
Bissen zu sich zu nehmen, ins Bett legte.
    1968
setzt das Tagebuch wieder ein mit: Was unmöglich scheint,
ist einer Amerikanerin möglich. Gemeint ist Jacqueline
Kennedy, der Skandal, den ihre Hochzeit verursachte. Eine Hassliebe unseres
Großvaters. Vom Typ her könnte sie ihm gefallen haben, obwohl er das wohl niemals
zugegeben hätte - klein, zart, großäugig, und darin entfernt der Großmutter
ähnlich. Ihre Taschen, ihre knapp geschnittenen Kostüme, ihre Frisur, die
Sonnenbrillen, die Schuhe, ihr Lebenswandel, nichts entging dem Großvater, und
er missbilligte alles. Wenn Jacqueline O. im Bikini und auf hohen Schuhen in
sein Tagebuch stolperte, geriet der Schreiber in Hitze und blies den großen
Zapfenstreich der Tugend. Es war sonnenklar, dass die Frau keine einzige Tugend
besaß, dafür aber Laster in Hülle und Fülle.
    Sie
verschwendete Geld. Die Villa auf der Insel Skorpios kostete nur
neunhundertsechzig Millionen Schweizer Franken und war eigentlich zu billig für
die Ansprüche der neuen Frau Onassis. Wenn sie nicht täglich eine Million
ausgab, bekam sie eine Nervenkrise. Sie besaß sechs-hundertsiebenundfünfzig
Paar Schuhe zuviel, und kein einziges darunter, in dem man ordentlich laufen
konnte. Ihre Schmuckschatullen quollen über, und das Geld kam nicht den Armen
zugute. Nach London flog sie nur, um die einschlägigen Preziosengeschäfte
aufzusuchen. Sie ernährte sich von Hummer und Kaviar. Sie war kalt und einsam,
trotz der vielen Leute, die unablässig um sie herumwimmelten. Auch wenn die
bestellten Geiger auf der Yacht sich nächtelang um den Verstand fiedelten, sie
lag allein im Bett, zog die Knie an den mageren Leib und weinte. Sie liebte
ihre Kinder nicht und schenkte ihnen weder ihre Fürsorge noch eine
verantwortliche Erziehung. Sie war verdorben. Ach, schrieb der Großvater, im
Grunde gebe es über diesen beklagenswerten Fall noch viel zu erzählen, er aber
schweige, da sich diese Frau ganz von selbst in ihr Verderben stürzen werde.
    Wenn
ich mir ansehe, wieviel Arbeit sich Rumen mit der Übersetzung aufgeladen hat,
bekomme ich Gewissensbisse. Er hat es freiwillig getan, er hat uns die Übersetzungen
als Geschenk überreicht. Der Großvater hätte ihn dafür gelobt, so akkurat und
fehlerfrei, wie Rumen die Arbeit verrichtet hat. Ich aber fühle doppelten
Tadel. Weil ich Rumens Anstrengungen kaum gewürdigt habe, ihn selbst, der uns
durch die Gegend fährt und sich um unser Wohl kümmert, so achtlos behandle.
    Weil
- verdammt noch mal, das Gewissen packt die Konturen eines Mannes aus, groß,
knochig, mit buschigen Augenbrauen, da drüben, da, am Betonmast gegenüber
steht er oder scheint zu stehen, einige wenige Striche halten ihn zusammen.
    Sein
ruhiger Blick ein einziger Tadel.
    Wenn
er könnte, würde er mich verstoßen. Verstoßen, das Wort gefällt denen da drüben, es erntet Applaus; von der
Seite, auf der er sich befindet, schallt schwach herüber Applaus und mischt
sich in die Asphaltgeräusche, die der Strom der vorüberfahrenden Wagen erzeugt;
Applaus, wie er welken, knochenlosen Händen entflieht, denn die dort drüben
setzen den schwankenden Mann wieder in seine Rechte. So würdelos, meinen die
mit dem Applaus, so heruntergebrannt in seinem Stolz darf man keinen von uns
fortleben lassen, der für das Fleisch und Bein von euch da hüben gesorgt hat,
darf es nicht mal in Gedanken.
    Sich
verstoßen, tun

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