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Lewitscharoff, Sibylle

Lewitscharoff, Sibylle

Titel: Lewitscharoff, Sibylle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Apostoloff
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das die Toten vielleicht auch untereinander? Oder bedeutet
Widerwille bei ihnen, falls er denn weiter gehegt wird, nur unruhiges
Auseinanderflattern?
    Vom
Vater zum Sohn haben sich keine Briefe erhalten, vom Sohn zum Vater auch nicht.
Wurden keine geschrieben, oder sind sie verloren? Vielleicht wollten sie
einander schreiben, aber es verkrampften sich ihnen jedes Mal die Hände, sobald
sie nur das Datum niederschrieben.
    Von
hinten kommend, in Ohrnähe, will mir jemand weismachen, dass er jetzt ein
freigelassener Sohn sei und tun und lassen könne, was er wolle. Oben sammelten
sich die Söhne regelmäßig in einem Heer, um gegen das Vaterheer anzukrachen,
behauptet er.
    Und
du? frage ich. Bist du nicht etwa auch Vater?
    Töchter
zählen anders, sagt der Vater, außerdem seid ihr nicht gestorben, deshalb bin
ich hier oben bloß Sohn.
    Was
für ein Unfug! Tote sind vor allem alt, auf einen Schlag wurden sie
unwiderruflich ins Alter geworfen. Gleichgültig, ob als Säugling, Sohn, Witwer,
Großvater gestorben, sind sie viel älter, als ein lebender Mensch je werden
kann. Ihre familiären Bande? Unerheblich. Ich bin jung, blutjung, gemessen an
jedem von euch da oben.
    Zeit
zu gehen. Meine Kellnerin lächelt beim Empfang des Geldes so verschämt, dass
ich dieses Lächeln weitertrage.
    Am
Auto warten die Mitfahrer schon, auf eine schauspielerhafte Weise entspannt,
als habe ihnen eine wichtige Instanz eingeredet, es sei besser, Frieden zu
halten. Mir ist es recht, so kann ich mich wieder auf der Rückbank einrichten
und meinen Gedanken nachhängen. Während ich einsteige, beugen sich die beiden
eifrig über die Motorhaube, auf der sie eine Straßenkarte entfaltet haben, und
gleiten mit den Fingern voraus ans Schwarze Meer.
    Rumen
raucht und fährt wieder in gewohnter Lässigkeit, zügig, aber unterbrochen von
seinen abrupten Bremsmanövern. Da vorne wurde beschlossen, nicht direkt ans
Meer, sondern vorher noch eine Schleife zu fahren ins archäologische Reservat,
nach Madara.
    Warum
nicht. Archäologisches Reservat, Indianerreservat, Reservat für Bewohner mit
bulgarischer Volkstracht, Schiwkow-Reservat, mir sind alle Reservate gleich
lieb.
    Bald
sind wir aus der Stadt heraus, und es geht aufwärts, unter einem Felshang
müssen wir das Auto abstellen.
    Ein
leerer, dünner Himmel über Madara, von weitem wird der Reiter zögernd
kenntlich. Ein aus dem Stein geklopftes Relief, durchaus monumental, zierlich
und bescheiden aber, verglichen mit dem Koloss, den wir vorher besichtigt
haben. Wie vor einem Rätselbild mit darin versteckten Objekten gibt es eine
Sekunde der Irritation, bis das Zugehörige deutlich hervor, Unwesentliches in
den Hintergrund tritt. Das Pferd hebt graziös ein Vorderbein. Der Hund springt
mit fliegenden Ohren. Wind und Wetter haben an den Figuren, vor allem an dem
hingekauerten Löwen genagt. Das Begleittier des Hieronymus im Gehaus ist hier
erlegt, nicht gezähmt, vielleicht kannte man die Vorteile eines gezähmten Löwen
in dieser Gegend nicht, eines Löwen, der zum Beispiel die heiligen Studien
bewachen kann und auch für Haustiere ungefährlich ist. Bei Dürer schläft der
Löwe friedlich neben einem Hund. Löwentötung, das Privileg der heidnischen
Herrscher. Was in Wirklichkeit grausam ist, zeigt sich hier porös, verwaschen,
sandfarben, nicht blutgerötet.
    Welch
einzigartige Erkenntnisse vermag ein gezähmter Löwe zu verschaffen. Heilige und
Philosophen vertrauen diesbezüglich auf den Löwen. Warum ist Hans Blumenberg
so ein aufregender Philosoph? Er war Löwenphilosoph. Nachts hatte er einen
versöhnlichen Löwen neben seinem Schreibtisch liegen, der's aber doch auf die
eine oder andere Kraftprobe ankommen ließ. Blumenberg ist an seinem Löwen
gewachsen. In der beständigen Nähe eines Löwen würde selbst ich mir mehr
zutrauen. Sein Fellgeruch, noch dampfend von früheren Morden, der gewaltige
Atem, der aus seinem Maul strömte, sie würden mir zum Beispiel völlig andere
Ideen über den Vater eingeben. Wilde und zugleich sanfte. Ein Löwe rechnet
nicht ab, er rechnet überhaupt nicht. Vater? Der Löwe würde gähnen und vor Überdruss
sein Haupt zur Seite fallen lassen. Strick? Der Löwe würde mal kurz mit dem
Quast seines Schwanzes auf den Boden klopfen, und damit wäre das Thema ein für
allemal erledigt.
    Das
Felsrelief stammt aus dem frühen Mittelalter. Wir stolpern noch ein wenig herum
und schauen ins Land, dann steigen wir ins Auto und fahren Richtung

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