Lexikon der Oeko-Irrtuemer
auf sich warten lassen: Der Reichtum der Städte verdeckt, daß China übers Ganze gesehen ein armes Land ist. Immer noch leiden 80 Millionen Menschen unter Hunger und Kälte, ist das Trinkwasser von 700 Millionen Menschen bakteriell verseucht und können 180 Millionen Chinesen nicht lesen und schreiben. 4 Trotz der unbestreitbaren Erfolge im Kampf gegen die Armut wächst die Kluft zwischen Stadt und Land, zwischen superreich und bettelarm - und inzwischen sogar das Heer der Arbeitslosen.
Nicht einmal Pekinger Tageszeitungen verbergen mehr, daß das Automobil derzeit in China keine Konjunktur hat. »Chinas Automarkt hat mittelfristig seine Grenzen erreicht, alles andere liegt noch in weiter Ferne«, sagt der BMW-Chef in Peking, Hansjörg Geduhn. Beim Projekt China-Auto sollen die Ausländer erst einmal viel Geld mitbringen: Wer ins Geschäft kommen will, muß zwischen 500 Millionen und einer Milliarde Mark in eine Fabrik investieren, von der er nicht sicher sein kann, daß sie ihm überhaupt gehört. Der durchschnittliche Monatslohn eines Arbeiters liegt unter 100 Mark. Die geplanten Familienautos sollen aber rund 8000 Mark kosten. Der chinesische Benzinpreis liegt heute schon bei rund einer Mark. Wäre Benzin bei uns in Deutschland im Verhältnis genauso teuer, so müßte der Liter Sprit rund 20 Mark kosten.
Bis zum Jahre 2010, so sieht es ein Masterplan für die chinesische Autofabrikation von 1994 vor, könnten etwa 12 Millionen chinesische Familien eine Benzinkutsche besitzen (ein Teil der Produktion soll natürlich auch exportiert werden). Der Weltbestand an Personenwagen wird derzeit auf etwa 500 Millionen geschätzt, alleine in Deutschland fahren davon 40 Millionen. Selbst nach den Planzahlen würden die chinesischen Autobesitzer - zumindest in den nächsten 10 bis 15 Jahren -zum Globalproblem Auto ganze 2,5 Prozent beitragen.
Doch selbst die relativ bescheidenen Planzahlen für den Autozuwachs wurden seit 1994 bereits um 20 Prozent herabgesetzt. Die tatsächlichen Zahlen für 1996: In China wurden 389655 Personenwagen gebaut und 58 000 importiert. 5 Derzeit gibt es im Reich der Mitte etwa 1,8 Millionen Personenwagen (und davon wiederum befindet sich nur jeder zehnte in Privatbesitz), und dennoch hat man bereits gewaltige Verkehrsprobleme. Das Straßennetz ist nicht nur in einem schlechten Zustand, sondern für ein Land dieser Ausdehnung und Einwohnerzahl auch lächerlich klein. Obwohl China 26mal so groß ist wie Deutschland, ist sein Straßennetz gerade mal doppelt so lang: 1,16 Millionen Kilometer 6 umfaßt das chinesische, 640000 Kilometer das deutsche Straßensystem. Die mit Fußgängern, Handkarren, Fahrradfahrern, Mopeds, Motorrädern, Lastwagen, Bussen und Militärfahrzeugen vollgestopften Verkehrswege sind heute schon brandgefährlich. China weist die verheerendste Unfallstatistik der Welt auf: 70 000 Menschen sterben dort pro Jahr im Straßenverkehr.
Nach Plan sollte ursprünglich bis zum Jahr 2030 jede chinesische Familie ein Auto besitzen - das wären 300 Millionen Exemplare. Nach heutigem Stand bliebe für ein chinesisches Auto rein statistisch ziemlich wenig Straße übrig: etwa drei Meter (in Deutschland 16 Meter). Sicherlich werden in China in 30 Jahren mehr Autos fahren und Straßen gebaut sein - aber die Planzahlen sind wohl eher reines Wunschdenken.
Hinzu kommt schließlich, daß sich die Kaufkraft (und damit die potentiellen Autokäufer) ausgerechnet in den Megastädten ballt. Was dies bedeutet, können die Chinesen derzeit im Stau von Hongkong besichtigen. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis Hongkong (und andere Städte) dem Beispiel von Singapur folgen. Denn so radikal wie mancherorts in Asien die Motorisierung vorangetrieben wird, so radikal verabschiedet man sich auch wieder davon: In Singapur darf die Innenstadt von Autos nur mit einer teuren Genehmigung befahren werden, die sich selbst viele Taxichauffeure nicht leisten können. Derzeit führt Singapur als erste Stadt der Welt ein automatisiertes Straßengebühren-System ein. Je nach Fahrleistung und Uhrzeit der Straßenbenutzung werden die hohen Straßenzölle automatisch von einer Kreditkarte abgebucht. Die Mittel fließen in den Aufbau eines modernen öffentlichen Nahverkehrssystems. 7
1 Stern Nr. 13/1995. 2 die tageszeitung vom 18. 11. 1994. 3 Welt am Sonntag vom 10. 8. 1997. 4 Die Zeit vom 4. 3. 1994. 5 Welt am Sonntag vom 10. 8. 1997. 6 Traffic Tech, März 1997. 7 Economistvom 6. 12. 1997.
»Die Motorisierung
Weitere Kostenlose Bücher