Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (E-Book zu Print) (German Edition)
und einer Druckwelle. Laute, wie Schüsse aufeinanderfolgende Explosionen waren noch in 1200 Kilometer entfernten Dörfern zu hören. In den ersten Jahrzehnten der Forschung ging man nach Analyse der Augenzeugenberichte davon aus, dass die Lichterscheinung sich von Süden nach Norden bewegt habe, bis man sich nach einigem Hin und Her in den 1960er Jahren schließlich auf eine Flugbahn von Ostsüdost nach Westnordwest einigte. Erst Anfang der 1980er Jahre erschien eine umfangreiche Sammlung von Augenzeugenberichten aus verschiedenen Regionen, die alles noch komplizierter machte: Zum einen beschrieben die Anwohner des Flusses Angara und die Anwohner der Unteren Tunguska die Erscheinung und ihre Bahn derart unterschiedlich, dass es sich kaum um ein und dasselbe Ereignis handeln konnte. Darüber hinaus wollte die aus den Angara-Berichten rekonstruierte Flugbahn nicht zum Muster der gefällten Bäume passen. Und schließlich war man sich in den Tunguska-Berichten einig, dass das Ereignis am Nachmittag stattgefunden hatte, während die Angara-Berichte vom frühen Morgen sprechen. Es handelte sich hier nicht um einige wenige Ausreißer, sondern um zwei umfangreiche Augenzeugengruppen, deren Berichte sich nicht einmal unter großen Verrenkungen zur Deckung bringen lassen. (Nicht ohne Grund heißt es unter Anwälten: «Lieber gar kein Zeuge als ein Augenzeuge.») Bis heute greifen sich die meisten Forscher aus dem Angebot diejenigen Aussagen heraus, die für ihre eigene Theorie sprechen, und erklären den Rest für unzuverlässig.
1927 erreichte Kulik in einer zweiten Expedition nach monatelangen Mühen und von Skorbut geschwächt endlich das Katastrophengebiet. 19 Jahre nach dem Ereignis fand er auf einer Fläche von über 2000 Quadratkilometern etwa 60 Millionen Bäume entastet, entrindet und wie Streichhölzer abgebrochen vor. Die umgestürzten Bäume wiesen fächerartig vom Epizentrum der Explosion weg, im Zentrum standen einige noch aufrecht, kahl wie Telegrafenmasten. Durch einen Waldbrand in der Folge der Explosion waren die Bäume in vielen Gebieten verkohlt. Außerdem fanden sich ringartige Bodenwellen und zahlreiche kraterartige Löcher von 10 bis 50 Meter Durchmesser. Allerdings gelang es Kulik auch im Laufe der folgenden Expeditionen nicht, den gesuchten Einschlagskrater oder Überreste eines Himmelskörpers zu finden. In den 1960er Jahren verständigte man sich darauf, dass die Explosion wahrscheinlich in der Luft über dem Epizentrum stattgefunden hatte – und das ist auch bis heute einer der wenigen Punkte, über die sich die meisten Forscher einig sind. Schon bei der Anzahl der Explosionen gehen die Meinungen wieder auseinander.
Der hypothetische Himmelskörper wurde zunächst nach der 600 Kilometer vom Ort des Geschehens entfernten Eisenbahnkreuzung Filimonowo, von der auf Kuliks Kalenderblatt die Rede war, als «Filimonowo-Meteorit» bekannt. Der amerikanische Astrophysiker Harlow Shapley war 1930 der Erste, der einen Kometen hinter der Sache vermutete, also keinen Stein, sondern einen schmutzigen Eisbrocken (der in diesem Fall auf etwa 40 Meter Durchmesser geschätzt wird) mit einer nebligen Hülle. Seine Theorie wurde 1934 von zwei Astronomen, dem Briten Francis Whipple und dem Russen Igor Astapowitsch, aufgegriffen und in der Folge vor allem von Russen vertreten und weiterentwickelt, während amerikanische Forscher häufiger auf einen Asteroiden als Verursacher setzten. Asteroiden kommen in unterschiedlichen Versionen vor, im Zusammenhang mit Tunguska wird üblicherweise nach einem Steinbrocken von 30 bis 200 Meter Durchmesser gefahndet. Bis in die 1990er Jahre hinein gab es zwischen diesen beiden Hauptreligionen kaum Kontakt, was wohl vor allem daran lag, dass die russischen Veröffentlichungen nicht auf Englisch verfügbar waren und umgekehrt. Zwar konnte die Asteroidentheorie in den letzten Jahren ihre Marktanteile ausbauen, aber bis heute hat sich keine der beiden Theorien durchgesetzt.
Für einen Kometen spricht, dass das mutmaßliche Himmelsobjekt schon in der Atmosphäre spurlos zerbröselt sein muss, denn trotz gründlicher Suche sind noch immer keine Asteroidenfragmente aufgetaucht; selbst von erheblich kleineren Meteoriten finden sich aber normalerweise irgendwelche Überreste, und sei es nur Staub. Auch den von der Sonne wegzeigenden Staubschweif, von dem manche Augenzeugen berichten und der wegen seines Wassergehalts für die ungewöhnlichen Sonnenuntergänge im Jahr 1908 verantwortlich
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