Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (E-Book zu Print) (German Edition)
sein könnte, besitzen nur Kometen. Ein Asteroid wäre zu trocken, um in großer Höhe Wolken entstehen zu lassen, die das Sonnenlicht brechen und so für helle Nächte sorgen.
Für die Asteroidentheorie spricht jedoch, dass alles, was über die Bahn des Objekts bekannt ist, eher zu den Gewohnheiten von Asteroiden passt. So errechneten italienische Forscher 2001, dass unter 886 denkbaren Bahnen des Himmelskörpers 83 Prozent Asteroidenbahnen und nur 17 Prozent Kometenbahnen sind. Außerdem weiß man seit dem Zusammenstoß des Kometen Shoemaker-Levy mit Jupiter (der zugunsten des Jupiter ausging), dass die Masse eines Kometen über 100 Millionen Tonnen betragen muss, damit es zu einer großen Explosion kommt. Das Tunguska-Objekt wird aber aufgrund seiner Geschwindigkeit und der Höhe der Explosion nur auf 100 000 Tonnen geschätzt. Ein so kleiner Komet kann – im Gegensatz zu einem Asteroiden – dem großen Druck beim Eindringen in die Atmosphäre nicht standhalten. Und wäre das Tunguska-Objekt wesentlich größer gewesen, hätte seine Explosion – so der amerikanische Astronom Zdenek Sekanina – die Sonne verdunkelt und eine Art nuklearen Winter nach sich gezogen. Die Auswirkungen wären so dramatisch, dass es heute keine Diskussion mehr um das Tunguska-Ereignis gäbe, weil niemand mehr am Leben wäre, der sie führen könnte. Hinzu kommt das statistische Argument, dass es zehn- bis hundertmal mehr Asteroiden als Kometen in der passenden Größe gibt. Und schließlich fliegen Kometen auch zu langsam, um eine solche Explosion auszulösen.
Natürlich kann man die Widersprüche zweier Erklärungsmodelle jederzeit dadurch auflösen, dass man eine dritte Theorie aufstellt. Der deutsche Astrophysiker Wolfgang Kundt brachte 1999 eine neue Hypothese ins Spiel, der zufolge die Tunguska-Explosion durch zehn Millionen Tonnen Methan ausgelöst wurde, das aus Rissen im Boden ausströmte und sich entzündete. Dass dergleichen in kleinerem Maßstab hin und wieder vorkommt, ist belegt. Kundt führt zwanzig Argumente für seine Theorie an, deren wichtigste wie folgt lauten: Tunguska liegt im Schnittpunkt dreier tektonischer Faltungslinien im Zentrum eines ehemaligen Vulkankraters. Das Muster der gefällten Bäume deutet darauf hin, dass fünf oder mehr Explosionen in Bodennähe stattgefunden haben müssen, was sich auch mit denjenigen Aussagen decken würde, in denen von mehreren aufeinanderfolgenden Explosionsgeräuschen die Rede ist. Die hellen Nächte nach dem Ereignis lassen sich vergleichsweise elegant damit erklären, dass die häufigen Bestandteile vulkanischer Gase leicht genug sind, um in die nötige Höhe von über 500 Kilometern aufzusteigen und dort das Sonnenlicht zu streuen – dasselbe war beim Ausbruch des Krakatau im Jahr 1883 geschehen. Zudem gibt es in der Region sowohl Erdgasvorkommen als auch Gesteine vulkanischen Ursprungs. Die Hitze, die die Bewohner Wanawaras auf ihren Gesichtern spürten, lässt sich sehr viel besser als mit anderen Theorien dadurch erklären, dass der Himmel mit brennendem Gas gefüllt war. Das letzte Argument ist rein statistischer Natur: Nur um die 3 Prozent aller heute noch sichtbaren Krater auf der Erde sind durch Einschläge aus dem All entstanden, die übrigen 97 Prozent sind vulkanischen Ursprungs. Gegen Kundts Theorie wird eingewendet, dass vergleichbare Fälle fehlen, aber vielleicht ist das auch ganz gut so. Schließlich weiß man nicht, ob ein solcher Vergleichsfall so höflich wäre, noch einmal ein fast völlig unbesiedeltes Gebiet zu verwüsten.
Wolfgang Kundts Theorie beruht im Ansatz auf der Arbeit des russischen Forschers Andrej Olchowatow, der als Erster einen geologischen Ursprung der Explosion vermutete. Seine Hypothese spricht von einem Zusammenwirken noch unklarer Vorgänge im Boden und der Atmosphäre, einer Art →Kugelblitz.
Forscher und Laien in aller Welt ergänzen diese drei Haupttheorien immer wieder um wunderliche Schnörkel und alternative Erklärungsmodelle. Der amerikanische Meteoritenexperte Lincoln La Paz kam schon 1941 auf die Idee, es könnte sich um den Einschlag eines Antimaterieklumpens aus dem Weltall gehandelt haben, und 1965 traten Willard Libby, Clyde Cowan und C. R. Alturi ein zweites Mal mit dieser Hypothese an die Öffentlichkeit. Antimaterie hätte aber eigentlich schon beim Eintritt in die Atmosphäre – und nicht erst kurz über dem Erdboden – zerstört werden müssen, da sie auf den Kontakt mit normaler Materie höchst allergisch
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