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Liberator

Liberator

Titel: Liberator Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harland
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schoss Lye nicht, stattdessen schrie sie mit lauter Stimme: »Lang lebe die Revolution!«
    Mr. Gibber sprang schon, bevor überhaupt geschossen wurde. Mit lautem Gewimmer, noch immer in der kauernden Affenhaltung, verschwand er zwischen den zwei Juggernauts. Im nächsten Moment blitzte Mündungsfeuer aus bestimmt hundert Gewehrläufen auf, und die Geschosse schnitten eine Schneise durch die Luft. Shiv, der vorne stand, bekam die meisten ab. Wie eine Marionette wurde er hin und her geschleudert, bis er vom Seil fiel und Mr. Gibber auf dem weiten Weg zur Erde folgte.
    Lye schien auch getroffen, sie war zusammengezuckt und hatte ihre Waffe fallenlassen. Ein Arm hing schlaff herab, und irgendetwas war mit ihrer Hüfte. Aber noch fiel sie nicht. Langsam richtete sie sich auf – das musste sehr schmerzhaft sein. Ihr Körper wirkte völlig verdreht, aber sie begann wieder, sich auf dem Seil vorwärtszubewegen. Schneller und schneller.
    »Kapituliert vor der Revolution!«, rief sie aus. »Ihr seid alle dem Tode geweiht! Ihr werdet niemals siegen!« Sie schrie noch immer, als die zweite Salve der russischen Waffen traf und sie vom Seil warf.
    57
    Die russischen Soldaten spähten über die Brüstung, die das flache Deck der Romanow umgab, und zeigten triumphierend nach unten, bis ihre Offiziere sie wegtreten ließen. Von Cols und Riffs Standort auf dem Liberator aus konnte man nicht zwischen die zwei Juggernauts sehen.
    »Sie wollte immer einen Märtyrertod«, sagte Riff. »Ich glaube, sie hat sich weder aus dem Leben noch aus dem Sterben sonderlich viel gemacht.«
    »Auch nicht aus dem Leben und Sterben anderer«, ergänzte Col.
    »Sie war ein außergewöhnlicher Mensch. So zielgerichtet wie ein Pfeil.«
    Col schüttelte den Kopf. »Irgendetwas fehlte ihr. Zeb einfach umzubringen, nur um einen Platz im Revolutionsrat zu bekommen …«
    »Zeb umbringen zu lassen«, korrigierte Riff ihn. »Ich glaube übrigens nicht, dass sie zum Privatvergnügen Macht haben wollte. Sie wollte Macht wegen der Sache, damit die Dinge so gemacht wurden, wie sie meinte, dass sie gemacht werden müssen.«
    »Zum Beispiel, um die Protzer loszuwerden. Und dich und mich und Dunga.«
    »Sie hat normale Menschen einfach nicht verstanden. Sie konnte sich nicht damit abfinden, dass andere nicht so waren wie sie selbst.«
    »Du zum Beispiel.«
    »Ja, ich.«
    Sie schwiegen eine ganze Weile. Col hätte sich gewünscht, dass Riff den mörderischen Verrat ihrer früheren Freundin verurteilte. Er verstand ihre geradezu respektvolle Art, von Lye zu reden, nicht. Aber ihm war klar, dass es keinen Sinn hatte, darüber zu streiten.
    Zwanzig Decks tiefer strömten zahlreiche Dreckige auf eine breite Terrasse, von der aus man zur Erde blicken konnte.
    »Lass uns gucken gehen«, schlug Col vor.
    »Okay.«
    Als Riff gehen wollte, fragte Gart sie: »Was ist mit den Seilen?«
    »Was soll damit sein?«
    »Wenn wir sie hängen lassen, kommen vielleicht die Russen rüber und greifen uns an.«
    »Stimmt. Schneidet sie durch!«
    Mit diesen Worten machte sie sich auf den Weg nach unten. Inzwischen hatten sich auf der Terrasse so viele Menschen angefunden, dass es schwierig war, durchzukommen. Doch Riff schaffte es, sich nach ganz vorne an die Brüstung durchzuschlängeln. Col quetschte sich wenig später neben sie. Es war ein Blick wie von einer steilen Felsklippe. Ganz weit unten erkannten sie das helle Grün von Gras, das dunkle Grün von Bäumen und die sich windenden Linien ausgetrockneter Wasserläufe. Weiter hinten konnte man die ungesund aussehende graue Flüssigkeit sehen, die aus dem Leck im Rumpf des Liberator ausgetreten war. Viele Dreckige zeigten auf zwei winzige rote Punkte, die sich vom grünen Gras absetzten.
    »Das sind Lye und Shiv«, rief ein Dreckiger aus.
    Col fragte sich, wer wohl wer war. Er suchte den Boden nach Mr. Gibbers Körper ab, der weiter vorn liegen musste, konnte ihn aber zwischen den Bäumen nicht entdecken.
    »Seht mal!«
    »Was machen die denn?«
    Gespannt blickten alle auf etwa ein Dutzend russische Offiziere, die zwischen den Raupen der Romanow erschienen. In ihren weiß-goldenen Uniformen waren sie sehr gut sichtbar. Sie schwärmten aus und stießen auch bald auf das, was sie gesucht hatten: die Körper von Lye und Shiv. Alle auf dem Deck beugten sich nach vorn, um besser sehen zu können. Die Hälfte der Männer ging schnurstracks auf den am nächsten liegenden Körper zu, die übrigen liefen zu dem anderen. Beide lagen in Blutlachen.

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