Liberator
suchte Col die Ex-Königin Victoria auf. Als er zurück in die Norfolk-Bibliothek gekommen war, hatte er Professor Twillip und Septimus gebeten, alle verfügbaren Informationen zu den Kohlestationen zusammenzutragen. Der Professor widmete sich dieser Aufgabe mit seinem üblichen akademischen Feuereifer, stieß Möbel beiseite und kletterte über Matratzen, um an die Bücher zu gelangen, die er für seine Recherche brauchte. Septimus blätterte ein Buch nach dem anderen durch und machte sich dabei sorgfältig Notizen. Antrobus half mit, indem er sich auf Bücher setzte, damit sie aufgeschlagen blieben. Und der tiefe Ernst seines Gesichtsausdrucks legte nahe, dass er irgendwie die Informationen absorbierte, die in den Büchern steckten, auf denen er saß.
Am dritten Tag machte sich Col auf den Weg. Da die königlichen Gemächer von den Dreckigen requiriert worden waren, lebten Victoria und Albert nun in der Staatskapelle auf Deck 45. Mit Bedauern sah Col, dass der antike Torbogen nicht mehr an seinem Platz und das königliche Wappen abgeschlagen worden war. Das musste erst kürzlich passiert sein, denn bei seinem letzten Besuch war noch alles da gewesen. Vermutlich war es nach dem Mord geschehen.
Der Majordomus der Königin öffnete ihm auf sein Klopfen hin, und eine Hofdame eilte herbei. Der Beamte trug noch den Vatermörder des alten Regimes, und die unnatürliche Taille der Hofdame ließ darauf schließen, dass sie unter ihrer Kleidung ein Korsett trug. Col war bewusst, dass die beiden nur aus Loyalität gegenüber dem königlichen Paar an Bord geblieben waren.
»Master Colbert Porpentine.« Der Gesichtsausdruck des Majordomus strahlte die Feierlichkeit eines Ölgemäldes aus. »Sie wünschen Ihre Majestät und Seine königliche Hoheit zu sprechen?«
»Ja, danke, Beddle.«
Der Majordomus und die Hofdame geleiteten ihn, so als ob er nicht wüsste, wo er das ex-königliche Paar finden würde. Sie gingen an steinernen Säulen vorbei, die von dem roten und violetten Licht, das durch das bunte Kirchenfensterglas fiel, beleuchtet wurden. Der Raum hatte sich seit Cols Hochzeitszeremonie verändert; er war jetzt durch Stoffbahnen, die zwischen den Säulen hingen, sowie durch hölzernes Kirchengestühl in verschiedene Räume unterteilt.
Vor einem ganz besonders abgeschirmten Bereich blieben sie stehen. Die Hofdame hüstelte zweimal und sprach dann durch den Vorhang. »Master Colbert bittet um eine Audienz mit Eurer Majestät und …«
»Colbert? Komm doch herein.«
Er schob den Vorhang zur Seite, während die Hofdame durch die Nase schnob und ihren Satz indigniert beendete: »… und Seiner königlichen Hoheit Prinz Albert.«
Das ex-königliche Paar saß auf einem Bett, das seine würdevolle Höhe dadurch erreicht hatte, dass vier Matratzen aufeinander gestapelt worden waren. Überall standen aus den königlichen Gemächern gerettete Möbel: ein Schreibpult, ein Chiffonier und zwei Ohrensessel; und überall lagen Samtkissen, in die das königliche Monogramm V&A mit Goldfäden eingestickt war.
»Ach, Morkins.« Victoria lächelte und schüttelte den Kopf. »Wir sind jetzt schlicht und einfach Mr. Albert und Mrs. Victoria.«
Victoria war sicherlich keine Schönheit, sie hatte eher etwas von einem edlen Rennpferd, die großen quadratischen Zähne in ihrem langen Gesicht schienen dazu gemacht, Gras zu weiden. Allerdings waren ihre braunen Augen sanft, und sie hatte keine Furche mehr auf ihrer Stirn, die sie durch das Tragen der Krone immer bekommen hatte. Tatsächlich hatte Col sie noch nie so glücklich und strahlend gesehen.
»Setz dich, Colbert, setz dich.« Albert zeigte auf die Ohrensessel. »Die Zeit der Formalitäten ist vorbei. Wir sind nun Gleiche unter Gleichen.« Als Zeichen dieser neuen Gleichheit hatte er sich seinen Schnurrbart abrasiert, allerdings versuchte er aus alter Gewohnheit ständig, den nicht mehr existierenden Schnurrbart zu zwirbeln. Nichtsdestoweniger sah auch er sehr zufrieden aus.
Was ist wohl ihr Geheimnis?, fragte sich Col. Er setzte sich in den Ohrensessel und begann ihnen zu erklären, was der Rat von ihnen auf der Kohlestation erwartete.
»Unsere frühere Rolle?« Auf Victorias Stirn erschien die alte Furche wieder. »Aber wir haben das alles hinter uns gelassen. Wir sind glücklich darüber, es hinter uns gelassen zu haben. Wir genießen es, Mr. Albert und Mrs. Victoria zu sein.«
»Wir wollen nichts vortäuschen«, fügte Albert hinzu.
»Wir wollen einfach ein normales Ehepaar
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