Liberator
Quinnea wies mit dem Kopf nach oben, von wo weiterhin lautes Stampfen und Klopfen erscholl. »Auf ihrer?«
Orris ließ die Schultern fallen. »Ich weiß es selbst nicht mehr.«
»Wenigstens würden die anderen Juggernauts dafür sorgen, dass sie sich benehmen«, sagte Quinnea. »So wie es früher war. Zivilisiert!«
Weder Orris noch Col wussten darauf etwas zu antworten. Sie glaubten an die Revolution, aber dazu gehörte das, was gerade geschah, nicht. Auf der anderen Seite erinnerte sich Col, wie der Gouverneur von Botany Bay sie eine Schande für die menschliche Spezies genannt hatte.
Die Imperialisten betrachteten die Protzer als Verräter des alten Systems, und die Dreckigen betrachteten sie als Verräter des neuen Systems. Eigentlich gehörten sie auf keine Seite, nur auf ihre eigene.
»Es sind doch nur ein paar Hitzköpfe«, gab Orris am Ende ohne die geringste Überzeugung von sich.
Quinnea schluchzte. »Ich wünschte mir, wir hätten den Juggernaut verlassen, als es alle anderen auch getan haben.«
Von vielen Seiten war gemurmelte Zustimmung zu vernehmen. Nun, da sie verfolgt wurden, konnten sie nicht anders, als ihre Verfolger zu verabscheuen. Doch in dieser Nacht ging die Verfolgung nicht über psychologische Kriegsführung hinaus. Die Angreifer wollten nicht schießen – bis jetzt. Das An- und Ausschalten der Deckenbeleuchtung und das Hohngeschrei und Trampeln ging noch über Stunden weiter. Aber darüber hinaus geschah nichts, bis zuletzt auch das Schreien und Stampfen abebbte.
Als die Tagesbeleuchtung wieder angestellt worden war und auch an blieb, wussten sie, dass sie es erst einmal überstanden hatten. Überall war erleichtertes Aufatmen zu vernehmen. Dann warteten die Bewohner der Bibliothek in wohltuender Ruhe noch eine lange Weile ab. Schließlich befahl Gillabeth, die Lücke in der Regal-Barriere zu öffnen. Dann trat sie aus dem Schutzraum, gefolgt von Col und Septimus. Zum Schluss schlüpfte noch Antrobus hindurch, bevor ihn jemand zurückhalten konnte, und tapste auf unsicheren Beinchen hinter ihnen her.
Die Bibliothek sah wie ein Schlachtfeld aus. Bücher, Stühle, Kleidung lagen überall herum. Col und Gillabeth drückten ihr Ohr an die Wand neben der Eingangstür. Nicht ein einziger Laut war zu hören. Lange Zeit standen sie da und lauschten. Dann begannen sie leise, die Matratzen von der Tür wegzuziehen. Die Holzpaneele waren an vielen Stellen kaputt, aber das Schloss und der Rahmen hatten gehalten. Col öffnete die Tür und spähte nach draußen. Die Angreifer waren verschwunden, der Korridor leer.
»Die Luft ist rein!« Col zog seinen Kopf zurück und verschloss die Tür wieder. »Was nun?«
»Schlafen«, bestimmte Gillabeth so unmissverständlich wie immer. »Sieh ihn dir an!« Sie meinte Septimus, der nicht aufhören konnte zu gähnen und vor Müdigkeit schwankte. Sie gingen zu den anderen zurück, und Gillabeth gab an alle Bewohner den Befehl aus: »Jetzt wird geschlafen. Bis 12 Uhr Mittags!«
Niemand bedurfte einer Extraaufforderung. Todmüde ließ sich jeder dort nieder, wo er gerade stand, egal auf wessen Matratze. Viele drängelten sich sogar zu zweit oder dritt auf einer Matratze, und nicht lange darauf schliefen alle.
Als sie fünf Stunden später wieder wach wurden, stellten sie fest, dass Victoria und Albert verschwunden waren. Und mit ihnen ihre treuen Bediensteten Morkins und Beddle.
35
Professor Twillip hatte es als erster entdeckt. »Ich bin mir sicher, dass sie dort gelegen haben«, sagte er und zeigte auf eine leere Matratze. »Genau neben mir.«
Gillabeth organisierte eine Suche nach Victoria und Albert.
Aber sie blieb ergebnislos. Die beiden waren lautlos verschwunden, während alle anderen schliefen. Doch das Eigenartige war, dass die Bibliothekstür nach wie vor von innen verschlossen war.
»Genau wie bei Dr. Blessamy!«, sagte Mr. Gibber.
Col hatte eine leise Hoffnung, denn er erinnerte sich, dass Victoria sich schuldig gefühlt hatte, das ganze Unheil über die Bibliotheksbewohner gebracht zu haben und deshalb in die Staatskapelle zurückkehren wollte. Das erklärte allerdings noch lange nicht die von innen verschlossene Tür. Doch die Vorstellung, die Rotarmbinden hätten die beiden entführt, war noch absurder.
»Ich sehe in der Staatskapelle nach«, verkündete Col und machte sich auf den Weg zu der ein Deck höher gelegenen Kapelle. Er kam an ein paar einzelnen Dreckigen vorbei, aber an keiner Gruppe. Sie ignorierten ihn genauso wie er
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