Liberator
Sephaltina als den Saboteur präsentiert hatten.
Lye kam schon wieder zurück, die Rotarmbinden im Schlepptau – sowie Victoria und Albert. Col erschrak.
»Was soll das?«, fragte Shiv.
»Sie ist schwanger«, antwortete Lye.
»Schwanger?«
»Ein Thronfolger!«
Victoria versuchte dazwischenzufahren. »Kein Thronfolger. Ein normales Kind. Ein ganz und gar normales Kind.«
Lye beachtete sie gar nicht. »Wir könnten das zu unserem Vorteil nutzen«, sagte sie zu Shiv.
»Wie meinst du das?«
Sie stellten sich etwas abseits und führten ihr Gespräch mit gesenkten Stimmen weiter. Col konnte nur das eine oder andere Wort aufschnappen: »Verpflichtung … jeder verantwortlich … kein Weg zurück …«
Mr. Gibber stand unruhig in Lyes Nähe. Er schien an dem Gespräch über ihre Pläne für Victoria und Albert nicht im mindesten interessiert. Etwas anderes trieb ihn um. Er hatte eine kleine Dose in seiner Hand, ähnlich den Dosen, in denen er in der Schule die Kreide aufbewahrt hatte. Und immer wieder hielt er sie hoffnungsvoll in Lyes Richtung.
Lye beachtete ihn erst, als ihr Gespräch mit Shiv beendet war. »Ah. Mein kleiner Spion will seinen Lohn. Du bist gleich an der Reihe. Keine Sorge. Aber erst die Geschäfte.«
Mit Geschäfte waren offensichtlich die Maßnahmen für die neuen Gefangenen gemeint.
»Ich brauche Freiwillige, die Unten die Maschinen inspizieren«, erklärte sie. »Die müssen untersucht werden, um festzustellen, welche Reparaturen nötig sind. Ich glaube, die Saboteurin und ihr Ehemann werden unsere ersten Freiwilligen sein. Und seine Eltern und seine Schwester und sein kleiner Bruder. Was ist mit dir?« Die letzten Worte galten Riff, die Lye anstelle einer Antwort nur wütend anguckte. Lye sah Riff weiterhin nicht in die Augen, sondern sagte nur: »Gut. Dann du auch.«
Plötzlich war ein Grunzen zu hören, und der Gefangene neben Gillabeth begann heftig zu zucken. Gillabeth stellte sich breitbeinig hin und konnte so vermeiden, durch die Eisenkette von den Beinen gerissen zu werden.
Lye kräuselte die Lippen. »Und die auch«, sagte sie. »Sie kann die anderen Unruhestifter begleiten.«
Col dachte noch über das eben Gesagte nach, als die Rotarmbinden schon seine Fußfessel von der Kette lösten. Mit dem bandagierten Gefangenen waren sie nun acht sogenannte Freiwillige. Zwei Rotarmbinden blieben bei Victoria und Albert; die anderen stießen die Freiwilligen vorwärts. Lye und Shiv gingen voran. Mr. Gibber folgte ihnen wie ein treuer Hund.
Bald schon hatten sie die nächste Inspektionsplattform erreicht. Shiv öffnete eine Luke, und eine Wolke heißen Dampfs quoll zischend aus ihr hervor. Murgatrudd, der zusammengerollt in Antrobus’ Armen lag, hob seinen Kopf und beantwortete das Zischen des Dampfes mit seinem eigenen.
Als die Gefangenen vor der Luke stehenblieben, trat Mr. Gibber einen Schritt vor, verbeugte sich und grinste wie ein Gartenzwerg.
»Jetzt?«, fragte er Lye. Er drehte den Deckel der Dose auf. Col konnte nur flüchtig etwas Schwarzes erkennen – etwas Samtschwarzes.
»Hmm, und wie viele heute?« Lye betrachtete Mr. Gibber mit Verachtung.
Er leckte sich über die Lippen. »Drei?«
»Nein, sei nicht so gierig. Drei hast du bekommen, als du mir Victoria und Albert gebracht hast. Information über die beiden sind nur zwei wert.«
Sie hob den Arm und riss sich zwei Strähnen ihres samtschwarzen Haares aus. Als sie die Mr. Gibber übergab, behandelte er sie wie pures Gold. Mit unendlicher Zartheit legte er sie in seine Dose, die er sofort verschloss.
Col musste sich abwenden, als er die haltlose Gier in Mr. Gibbers Gesicht sah. Es lief ihm kalt den Rücken herunter. Er stand nun direkt neben dem bandagierten Gefangenen, bei dem es sich ja trotz des kurzen Haars offenbar um eine Frau handelte.
»Wer bist du?«, fragte er.
Die Antwort war ein gedämpfter Laut, der alles Mögliche bedeuten konnte. Aber inzwischen war Col eine Idee gekommen. »Nick einfach mit dem Kopf, wenn ich recht habe«, sagte er. »Ich glaube …«
»Ruhe«, bellte einer der Rotarmbinden.
Lye musste dem Gespräch mit halbem Ohr gefolgt sein, denn plötzlich drehte sie sich zu Col.
»Er will wissen, wer sie ist!«
Das Lächeln ihrer Lippen erreichte ihre Augen nicht.
»Warum nicht?«
Sie gab Shiv ein Zeichen. »Schneid die Bandagen auf. Soll er doch sehen!«
Shiv zuckte die Achseln, griff in sein Hemd und holte dasselbe Messer hervor, mit dem er schon dem Offizier in Botany Bay gedroht hatte.
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