Liberator
Er durchschnitt die Knoten, und zwei Rotarmbinden traten hinzu und lösten die Bandagen. Einen Moment später war der Gefangene enttarnt – und es stellte sich heraus, was Col schon befürchtet hatte. Es war Dunga, das fehlende Ratsmitglied.
Sie kochte vor Wut und versuchte, sich auf Lye zu stürzen, aber die Fußfesseln hinderten sie daran, und sie fiel zu Boden. Vielleicht war das gut so, denn Shiv hielt das gezückte Messer hoch und war bereit zuzustechen.
»Das nenn ich ’ne schnelle Genesung«, höhnte er.
Lye zeigte auf die offene Luke. »Los. Runter mit ihr.«
Zwei Rotarmbinden warfen Dunga die Luke hinunter. Sie konnte sich nicht einmal an der Leiter festhalten, sondern fiel krachend auf den Gitterrost, der den Boden des Drahtkäfigs der Inspektionsplattform bildete.
»Und nun die anderen!«, befahl Lye. »Wenn ihr nicht die Leiter nehmt, werdet ihr runtergeschmissen.«
Sie entschieden sich, die Leiter hinabzusteigen: erst Orris und Quinnea, dann Sephaltina, dann Antrobus mit Murgatrudd. Als Col, Riff und Gillabeth sich bereit machten, winkte Lye Mr. Gibber zu sich. »Du auch, mein kleiner Spion«, sagte sie. »Du kannst für mich ein Auge auf sie werfen.«
»Aber … aber … sie …«
»Sie werden dir schon nichts tun. Du wachst über sie, und die Sicherheitstruppe wird über dich wachen.«
»Aber wo wirst du …«
»Wir müssen den Prozess gegen Victoria und Albert vorbereiten.« Lye machte auf dem Absatz kehrt. »Du kannst mir später berichten.«
49
Die Inspektionsplattform war eine Art Käfig von etwa fünf Metern im Quadrat, der unter dem Boden des Orlopdecks hoch über dem immensen Maschinenraum hing. Bei früheren Besuchen hatte Col durch den Gitterrost, der den Boden der Plattform bildete, die schwarzen Umrisse riesiger Eisenräder und Stahlstangen ausmachen können, die sich hoben und senkten, begleitet von lautem Zischen, donnerndem Maschinenlärm und dem Flackern feuriger Glut. Jetzt aber lag Stille über dem von Dampf verschleierten Käfig. Während Col die Leiter hinabstieg, konnte er nicht einmal den Gitterrost ausmachen, bis er darauf trat.
Mr. Gibber bildete den Schluss und blieb direkt an der Leiter stehen. Rotarmbinden schoben oben Wache; sie saßen an der offenen Luke, ließen ihre Beine baumeln und zielten mit ihren Gewehren nach unten.
Col ging zu der Seite des Käfigs, an der sich eine Drahttür befand. Unter dem alten Regime hatte sie dazu gedient, die mit dem Haken gefangenen Dreckigen in den Käfig zu hieven. Jetzt stand die Tür auf. Er schaute hinaus und entdeckte mehrere Flaschenzüge, die direkt an der Decke über ihnen befestigt waren. Zwei gespannte Seile hingen davon herab und verloren sich im Dampf, zwei lockere Seile waren an die Seite des Käfigs gebunden.
Die Seile und Flaschenzüge waren nach der Befreiung angebracht worden, um die Dreckigen zum Maschinenraum und wieder nach oben zu befördern. Es sah gefährlich aus, aber stellte für die in Akrobatik geschulten Dreckigen sicherlich kein Problem dar. Für ihn oder Gillabeth oder Sephaltina war es bestimmt nicht einfach … und für seine Eltern und seinen kleinen Bruder kaum zu bewältigen …
»Komm doch mal rüber«, rief Riff ihm zu.
Col sah Riff und Dunga auf der anderen Seite des Käfigs auf dem Gitterrost sitzen. Er gesellte sich zu ihnen.
»Hör dir das an!«, sagte Riff. »Erzähl’s nochmal!«
Dunga zeigte auf eine runde Narbe oberhalb ihres Knies. »Die Wunde von dem Schuss ist schnell geheilt; war nur ’ne Fleischwunde. Aber Lye und Shiv wollten mich auf Dauer außer Gefecht setzen. Haben mich in einen der Schlafsäle bringen und einbandagieren lassen. Taten so, als ob das nötig wär, damit die Wunde sich nicht wieder öffnet. Hah! Haben mich sogar ans Bett festbinden lassen.«
Col pfiff durch die Zähne. »Was die sich trauen! Mit einem Ratsmitglied!«
»Genau deshalb haben sie es ja gemacht. Wussten, dass ich im Rat anders abstimmen würde, als sie wollten, also haben sie einen Weg gefunden, mich dran zu hindern.«
»Und was ist mit den anderen?«, fragte Riff. »Mit all den Protzern, die sie angekettet haben?«
»Rache«, sagte Dunga. »Bestrafung. Sie schicken Gruppen von Protzern nach Unten, damit sie Seite an Seite mit den Dreckigen arbeiten. Sie wollen, dass die Protzer genauso leben und sterben, wie es die Dreckigen vor der Befreiung getan haben.«
»Also hauptsächlich sterben«, bemerkte Col.
»Klar. Lange halten die Protzer nicht durch, zwischen all den Maschinen.
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