Liberty 9 - Sicherheitszone (German Edition)
Stelle.
Nun fiel es Kendira wie Schuppen von den Augen. » Ja, jetzt sehe ich es! « , stieß sie aufgeregt hervor. Ihr war, als hätte Dante ihr den Schlüssel zu einem geheimen Code gegeben. Die unnatürlich gezackten Zeichen, die im Verhältnis zueinander manchmal zu groß und manchmal zu klein geraten waren, nahmen die Gestalt von Buchstaben an. Sie sahen zwar wie die ersten Schreibversuche eines Kindes aus, das noch keine ausgeprägte Kontrolle über die Schreibbewegungen seiner Hand hatte, aber man konnte sie lesen.
Kendira beugte sich vor, um auch den Rest zu entziffern. Und je mehr Worte ihr ins Auge sprangen, desto mehr wuchsen Beklemmung und Verstörung. Es war ein erschreckender, wirrer Text, den Seyward da hinterlassen hatte:
Ihr seid verflucht, wir Libertianer sind alle verflucht! Die Bibel, das bedeutendste und folgenreichste Buch der Welt, für unzählige Generationen Inspiration, Halt & Hoffnung über den Tod hinaus, Seelengift? Was für ein schändlicher Lug & Trug! Alles hier ist Lug & Trug! Was habe ich nur getan! Der Herr sei meiner sündigen Seele gnädig! Betet für mich! Es gibt keine Auserwählten, nur Verdammte! Und wir, eure verfluchten Oberen, sind es auch! Ihr aber seid verdammt und verloren. Denn euch schicken sie in den sicheren
Damit riss die Botschaft ab.
Eine Gänsehaut überliefKendira. Sie rieb sich über die Arme, als würde sie frieren.
» Hast du es gelesen? « , fragte Dante leise. Er hockte ganz nahe bei ihr, hatte eine Hand auf ihre Schulter gelegt. Ihre Köpfe berührten sich fast, während sie gemeinsam auf Seywards Botschaft starrten.
Sie spürte seinen warmen Atem an ihrer Wange. » Es… es ergibt überhaupt keinen Sinn « , murmelte sie und wehrte sich gegen die Ahnung, dass sich eine schreckliche Wahrheit in diesen Kritzeleien verbarg. » Wieso soll es keine Auserwählten, sondern nur Verdammte geben? Nicht nur dieses Seelengift namens Bibel, sondern auch alles hier soll Lug und Trug sein? Das ist doch lächerlich! Und warum sollen wir alle verflucht und verloren sein? Selbst wenn es wahr wäre: verdammt wozu? Sieht unser Leben hier im Tal und später im Lichttempel vielleicht danach aus? «
Er machte eine vage Geste. » Kann es nicht dennoch Lug und Trug sein? «
» Eigentlich verstehe ich überhaupt nichts « , antwortete sie. » Es ist doch offensichtlich, dass Hyperion weder Kosten noch Mühen scheut, um uns in der sicheren Abgeschiedenheit dieses Tales auf den hochwürdigen Dienst vorzubereiten. Und was soll dieses wirre Zeug hier bedeuten: Der Herr sei meiner sündigen Seele gnädig! Betet für mich! Von welchem Herrn spricht er? Vom Primas? Vom Vorsitzenden des Wächterrats? Und was meint er mit sündiger Seele und beten? Was soll das sein? Weißt du vielleicht, was beten ist? «
» Nein, aber… «
» Das ist doch alles völliger Schwachsinn, Dante! Er muss in den letzten Stunden den Verstand verloren haben! «, fiel sie ihm ins Wort. Doch ihre Worte klangen selbst in ihren eigenen Ohren eher wie eine angsterfüllte Beschwörung. Seywards Botschaft berührte in ihr irgendeinen dunklen Kern, eine tief verschüttete Wahrheit, die gegen ihre Unterdrückung aufbegehrte und an ihren Fesseln rüttelte. Wie sonst waren die innere Unruhe und diese beklemmende Ahnung heraufziehenden Unheils zu erklären, die auf einmal von ihr Besitz ergriffen hatten?
Dante schüttelte energisch den Kopf. » Den Eindruck habe ich nicht « , antwortete er mit düsterer Miene. Er setzte sich aufrecht hin. » Auch wenn ich manches noch nicht verstehe, so scheint es doch so, dass er uns aus irgendeinem Grund für verloren hält und uns eine Warnung hinterlassen wollte. «
» Kann sein, kann aber auch nicht sein « , erwiderte sie. » Jedenfalls ist es nicht mehr als eine Vermutung, für die du keine Beweise hast. «
» Stimmt « , räumte er ein. » Aber den Verstand hatte er nicht verloren, das ist mal sicher! «
» Und woraus schließt du das? «
» Er hat gewusst, warum er seine Botschaft da unten am Türrand hinterlassen hat. Sie sollte nicht von einem Master oder Prinzipal entdeckt werden, sondern sie ist nur für uns Servanten und euch Electoren gedacht. Wäre er nicht mehr bei Verstand gewesen, hätte er seine Nachricht einfach mitten auf die Tür oder irgendwo auf die Wand gekratzt. « Dante machte eine kurze Pause, deutete auf die eingravierten Buchstaben und sagte mit großem Ernst: » Das da ist der Aufschrei eines rettungslos Verlorenen und Verzweifelten! Und ich
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