Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
ihn an.
Er schluckt.
»Hi«, sagt er versuchsweise leise und hat auf einmal eine belegte Stimme und fühlt sich wie ein mieser Eindringling in eine… ja, in was? In eine andere Welt, schießt es ihm durch den Kopf. Er spürt, dass er innerlich irgendwie zittert. Nein, nicht nur innerlich. Seine Finger beben. Wie die manikürten Finger seiner Mutter, die schon beben, solange er zurückdenken kann.
»Nein …«, flüstert sie leise zurück.
Okay, das ist eindeutig keine Begrüßung, ganz sicher nicht. Wer ein Hi mit einem Nein beantwortet, lechzt nicht gerade nach Kontakt. Ernesto wünscht plötzlich, seine Freunde wären nicht mitgekommen, würden nicht irgendwo hinter seinem Rücken stehen und ihn beobachten.
»Ich… ich wollte dich nicht erschrecken. Ich – ich bin Ernesto Merrill. Ich bin – ganz zufällig vorbeigekommen«, sagt er schließlich.
Wer’s glaubt. Aber sie sieht sowieso nicht so aus, als wäre sie ganz da.
»Nein«, sagt sie wieder. Das struppige Tier ist schnaufend aufgestanden, genau wie ihr fehlt auch ihm ein ausgeprägter Vorsichtigkeitsradar. Aber es trottet ein paar Schritte weiter, dann doch.
Das Mädchen rührt sich nicht, steht noch immer mit dem Rücken am Baum. Ernesto ist sich seiner Jeans, seines schwarzen Longshirts, seiner Turnschuhe noch nie so bewusst gewesen wie in diesem Moment. Er fühlt sich wahnsinnig angezogen und gibt sich Mühe, ihre Nacktheit so gut es geht zu übersehen. Noch nie hat er ein Mädchen mit Haaren unter den Armen gesehen. Und Haaren an den Beinen, hellen, flauschigen Haaren. Sie hat auch – helle Schamhaare.
Jetzt weicht sie doch zurück. Zur Seite. Windet sich am Baumstamm entlang, schabt sich mit Sicherheit den Rücken auf dabei. Und murmelt etwas.
»Was?«, fragt Ernesto und verbessert sich: »Wie bitte?«
»…uns… zufrieden… lassen. Schattenmenschen… uns… zufrieden… lassen. Bitte… Jesus… Christus…«
Schattenmenschen? Hat er das richtig verstanden? Und Jesus Christus? Vielleicht gehört sie doch zu einer Sekte. Oregon zieht Sekten ja an wie verrückt, weil es so abgeschieden, so entrückt, so anders ist.
»Ich… ich tue dir nichts«, erklärt Ernesto langsam und behutsam, als spräche er mit einem ganz kleinen Kind, aber es nützt nichts, das sieht er. Er sieht praktisch, wie sich die Angst um ihren Körper schlingt, die Angst vor ihm, und es gibt nichts, was er dagegen tun kann. Nicht hier. Nicht jetzt. Niemals, vielleicht. Oder doch?
Das Mädchen hat blumenblaue Augen. Oder, weniger irre ausgedrückt, sehr blaue Augen, schwirrt es Ernesto durch den Kopf. Sie ist schmächtig und ihr Körper weist eine Menge Blessuren auf. Narben und Kratzer und vernarbte Stiche oder etwas in der Art. Ja, schmächtig. Und dünn, aber nicht mager, nicht verhungert. Sie hat auch Sommersprossen im Gesicht und eine schmale Nase und ihr Mund erinnert ihn an jemanden. Ohne darüber weiter nachzugrübeln, weiß er plötzlich, an wen: an Julia Roberts – wie verrückt ist das denn? –, die Hollywoodschauspielerin. Dabei ist das egal, wahnsinnig nebensächlich, aber trotzdem fällt ihm das auf. Dieser etwas breite, geschwungene Mund, der bestimmt schön aussieht, wenn er lächelt. Nur, das tut er eben nicht.
»Wer bist du?«, fragt er.
Erste, dünne Regentropfen fallen.
Schweigen.
»Wohnst du hier? Ist – jemand bei dir?«
Schweigen, Schweigen, Schweigen.
Und jetzt? Einfach gehen? Ciao sagen, aufstehen, umdrehen, weggehen, nach Hause fahren? Vielleicht vorher noch mal leutselig winken? Verdammt, verdammt, verdammt.
Bleiben? Ihr Hilfe anbieten? Oder einfach mal einen Blick in die Bruchbude dahinten werfen? Sehen, was darin ist?
Nichts davon tut Ernesto. Stattdessen redet er wirres Zeug, das aus seinem Mund will, warum auch immer.
Das Mädchen hat die Beine angewinkelt und so zur Seite gedreht, dass er von ihrem Intimbereich nichts sehen kann. Ernesto registriert es und atmet auf. Doch eine Art Vorsichtsradar?
»Ich bin siebzehn, werde bald achtzehn. Wohne in Old Town. Das ist die nächste Stadt, die man von hier aus erreichen kann. Obwohl, Stadt. Es ist eher ein totales Kaff. Meine Eltern haben dort eine Klinik. In der Nähe unseres Hauses. Plastische Chirurgie, aber das sagt dir wahrscheinlich nichts. Mein Vater ist Arzt, Chirurg, genauer gesagt. Er operiert bekloppte Leute, die nicht mit sich zufrieden sind. Nasen und so. Ach, ist ja auch egal. Er macht damit wahnsinnig viel Kohle, ich meine Geld. Aber er kann auch anders. Manchmal
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