Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
Sie sollen sogar nicht schlecht schmecken.«
»Ah, okay«, murmelte Darayavahush.
»Aber – warum lebt sie da draußen und isst sie? Wenn sie sie denn tatsächlich isst«, überlegte Mose.
»Und dann das Singen und Heulen.« Das kam wieder von Darayavahush. »Und nackt und diese – Felle, und das alles…«
»Das meine ich ja«, sagte Ernesto und versuchte, sich an die leise, gepresste Stimme des Mädchens zu erinnern, während sie gesungen hatte, was kaum gelang, solange im Hintergrund Madonnas »American Pie« ertönte.
Einen Moment herrschte zwischen ihnen Stille, in die Madonna, der Straßenlärm draußen und das Gerede der anderen Gäste tönten.
»Okay«, sagte Salvador dann und blickte in die Runde.
»Was?« Jaden machte ein fragendes Gesicht.
»Fahren wir – noch mal hin?«
Salvador war es, der die Frage stellte.
Die anderen, bis auf Jaden, nickten.
»Was, noch mal diese ganze Megatour?«, sagte er und verzog das Gesicht. »Nur um diese verrückte Nackte beim Abschlachten von Ratten zu bespannen? Ohne mich.«
Salvador und Ernesto warfen sich einen Blick zu.
»Was macht sie da draußen? Warum ist sie dort?«, fragte Ernesto.
»Sie ist aber nicht völlig alleine, oder?«, sagte Mose. »Sie hat doch nach einer Eve oder so gerufen.«
Ernesto streckte die Hand nach Darayavahushs Telefon aus. »Kann ich’s noch mal sehen?«, fragte er leise. Na toll, jetzt war ausgerechnet er der Spanner.
Darayavahush nickte. »Klar. Ich hab’s mir bestimmt schon ein Dutzend Mal angeguckt. Ist und bleibt eklig. Wie man es auch dreht und wendet.«
Ernesto tippte gegen den schon recht zerkratzten Touchscreen.
»Vorletzte Aufnahme«, erklärte Darayavahush hilfsbereit über den Tisch hinweg.
Was hatte er da eben gesagt? Es ist und bleibt eklig? Ernesto kniff die Augen zusammen. Für ihn war und blieb die wackelige Aufnahme schlicht und einfach… traurig. Und rätselhaft.
Er gab das Smartphone zurück und sie rafften sich auf, um nach Hause zu gehen. Als sie in den Windfang traten, kam gerade der alte Flavio Fabiani hinein, der einen der Kyriacou-Brüder im Schlepptau hatte. Jeder in Old Town kannte die Familie Kyriacou. Sie lebte ein bisschen außerhalb der Stadt und hatte eine Menge Probleme. In fast jeder Beziehung. Salvadors Vater betreute sie seit Jahren als zuständiger Sozialarbeiter.
»Hi Jungs«, knurrte Flavio. »Alles klar bei euch?«
»Klar, alles klar«, antwortete Salvador für sie alle und winkte seinem Hundesitter zu, bevor sie auf den Parkplatz gingen.
Früher war Flavio Fabiani ein stadtbekannter Säufer gewesen, dem der Vietnamkrieg nicht aus dem Kopf und der Seele ging, aber irgendwie hatte er es eines Tages doch geschafft. Heute nannten ihn die Leute gerne Den guten Mensch von Old Town.
»Er ist nicht der Hellste, aber er ist schwer in Ordnung«, hatte Salvadors Dad mal gesagt und damit den Nagel auf den Kopf getroffen.
Sie fuhren also wieder hin. Natürlich taten sie das. Ernesto war das schon an dem Tag im Ed’s klar gewesen. Mit dem einzigen Unterschied, dass diesmal Jaden und Dalí nicht dabei waren. Wie bei ihrem ersten Besuch stapften sie eine lange Zeit schweigend durch das dichte Unterholz. Diesmal schien die Sonne nicht, stattdessen war es kühl und sah nach Regen aus und zwischen den mächtigen Baumriesen stieg ab und zu so etwas wie Dunst oder dünner Nebel auf.
»Über diese dicke, frei liegende Baumwurzel bin ich beim letzten Mal auch gestolpert«, sagte Darayavahush und fluchte. »Wir sind also richtig.«
»Hier ganz in der Nähe fließt ein Nebenarm des Salmon River«, rief Ronan, der wieder voranging. »Darum der Nebel.«
Zu Hause, beziehungsweise bei Salvador zu Hause, hatten sie vorher ein OBO mit Dalí als Orakel abgehalten.
»Wer wird sie ansprechen?« Diese Frage war dem OBO vorausgegangen.
»Ihr meint: Wer wird sie ansprechen und sich gegebenenfalls abstechen lassen?«, verbesserte Jaden zynisch und blätterte in einem herumliegenden Men’s health.
»Jeder, der mitkommt, gibt eine heilige Insignie ab«, hatte Salvador vorgeschlagen, ohne Jadens Kommentar zu beachten, und die anderen hatten genickt. Jaden hatte mit den Schultern gezuckt und sich abgewandt.
Ernestos Wahl fiel auf seine Ethnokette, die ihm Chazza vor vielen Jahren von einer seiner zahlreichen Reisen mitgebracht hatte und die er seitdem immer trug. Sie stammte noch aus der Davorzeit. So nannte Ernesto in Gedanken die Zeit, ehe besagte Geräusche aus dem Hauswirtschaftsraum seiner
Weitere Kostenlose Bücher