Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
zeigt er so was wie ein Herz. Aber eben nicht oft. Einmal hat er gratis zwei Kleinkinder operiert, siamesische Zwillinge aus China. Sie waren im Gesicht aneinandergewachsen, hatten zusammen nur eine Nase und überhaupt keinen richtigen Mund und so. Na ja, er hat sie getrennt und ihnen richtig passable Gesichter verpasst. Das war irre. Und ein anderes Mal hat er einer Frau das Gesicht geflickt, das ihr ein paar durchgedrehte Hunde völlig zerfleischt hatten. Die Frau hatte auch kein Geld, sie kam aus New Mexico und mein Dad hat monatelang an ihr herumgeschnippelt, bis sie wieder okay war. Keinen Cent hat er dafür genommen…«
Ernesto hält inne. Was tut er hier bloß? Warum fällt ihm das alles ein? Es ist doch völlig nebensächlich.
Das Mädchen hat sich nicht gerührt. Immer noch starrt sie ihn an.
Der Regen ist nur ein Nieselregen, aber dennoch spürt Ernesto die Nässe, langsam aber stetig bahnt sie sich ihren Weg.
Wie soll es weitergehen? Wenn er nicht hier wäre, hätte sich das Mädchen längst in die Hütte geflüchtet, um nicht sinnlos nass zu werden. In die Hütte, in der sie zu wohnen scheint. Ist – Eve, nach der sie beim letzten Mal gerufen hat, ebenfalls dort? Ist Eve ihre Mutter? Und wenn ja, warum lässt sie sich niemals blicken? Vielleicht… ist sie ja krank. Vielleicht braucht sie Hilfe. Ja, vielleicht ist es das.
»Deine Mutter. Äh, wo ist deine Mutter?«, nimmt Ernesto einen neuen Anlauf und Hoffnung entzündet sich in ihm, als das nackte Mädchen das Unglaubliche tut: Sie lächelt. Es ist wie ein Hauch, der schnell wieder vergeht, aber Ernesto hat ihn gesehen.
»Deine Mutter?«, wiederholt er, aber verdammt noch mal, verdammt noch mal, verdammt noch mal, genau in diesem Moment taucht Darayavahush auf. Warum denn das, um alles in der Welt?
»Sorry, wir wollten nur mal nachfragen… weil, wir stehen uns echt schon ewig die Beine in den …«, sagt er und Ernesto hört, dass Darayavahush sich Mühe gibt: Er bleibt in angemessenem Abstand stehen, bestimmt zwanzig Meter liegen zwischen ihm und der Stelle, an der er selbst und das Mädchen in einer idiotischen Position kauern, und er spricht mit Darayavahushs untypisch gedämpfter Stimme, aber es ist dennoch der Todesstoß.
»Nein! Oh, nein! Weg!«, schreit das Mädchen los, springt auf, ruft wieder dieses Wort: »Schattenmenschen!«, stolpert nach vorne, fällt praktisch auf Ernesto, der sich duckt und gleichzeitig versucht, sie zu stützen, aber sie braucht keine Hilfe. Sie ist wie ein Raubtier, ihre Fingernägel bohren sich in totaler Abwehr in sein Gesicht wie Messer, für einen Moment nur, aber der Moment reicht, ein heißer, jäher Schmerz durchzuckt Ernesto, dann ist sie weg.
»Scheiße«, sagt Ernesto leise und hat das Gesicht voller Blut.
»Das kannst du laut sagen«, stimmt Darayavahush zu.
4
T he revolution is not an apple that falls when it is ripe – you have to make it fall.
Der gerahmte Che-Guevara-Druck hing schon so lange an der Wand dieses Raums, wie Ernesto zurückdenken konnte. Ein altes Plakat seiner Mutter. Ihrer Verehrung für Che Guevara verdankte er seinen Vornamen, Ernesto.
»Dass ausgerechnet deine schicke Mom mal auf den alten Revoluzzer abgefahren ist, werde ich nie begreifen«, sagte Ronan kopfschüttelnd und stopfte sich, von Dalí gierig beäugt, eine Handvoll Nachos in den Mund. »Tut’s eigentlich noch weh?«, fragte er dann und wies auf die Kratzspuren in Ernestos Gesicht.
Ernesto schüttelte abwehrend den Kopf.
Darayavahush grinste. Er war gestern Abend noch mit Ernesto nach Hause gekommen. »Natasha wollte Ernesto am liebsten sofort eine Tetanusspritze verpassen, damit ihr holdes Ziehsöhnchen nur ja keinen Schaden nimmt und womöglich die Tollwut bekommt oder so.«
»Vielleicht dachte sie, ein Kojote hat ihm die brutalen Schrammen verpasst«, sagte Mose. »Gute, alte Natasha. – Man könnte meinen, sie sei Erns wahre Mom…«
Darayavahush lachte. »Gegen die nackte Kleine im Wald ist so ein Kojote allerdings ein wahres Schmusetier.«
»Hört mal«, sagte Ernesto da. »Ganz im Ernst. Was machen wir jetzt?«
Er wollte nicht über seine Mutter nachdenken. Und schon gar nicht über sie sprechen.
Schlagartig hörten alle auf zu lachen, außer Che, der weiter charismatisch die Merrill’sche Bücherwand anlächelte.
»Machen?«, fragte Darayavahush.
»Er meint, mit der Kleinen«, sagte Mose. »Nehme ich jedenfalls an.«
»Wir können doch nicht einfach so tun, als wäre nichts passiert«,
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