Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
Liberty«, sagte er und lächelte ihr zu. Sogar in ihrem Gesicht waren Spritzer von Cals getrocknetem Blut.
»Liberty Bell«, sagte sie leise, aber bestimmt. He, wenn das nicht schon fast gesprächig war.
»Klar, Liberty Bell«, wiederholte Ernesto und eine weitere Frage schwirrte in seinem Kopf herum. Sollte er es wagen, sie auszusprechen?
»Wer – wer hat dich denn so genannt? Deine Mom? – Eve? Ist sie deine Mutter?«
Er konnte es förmlich sehen, wie sich ihr Gesicht wieder verschloss.
»He, halt! Sorry, ich… ich wollte dich nicht traurig machen oder so …«, sagte er hastig. Wie sollte es nur weitergehen? Okay, sie hatte gesprochen, eigentümlich gepresst zwar, aber sie hatte ihm ihren Namen gesagt. Liberty Bell.
Und jetzt? Sie würde sich ganz sicher nicht von ihm dazu überreden lassen, bis zu seinem Beetle mit ihm zu gehen und dann, völliger Wahnsinn, in die Stadt zu fahren. Hatte sie überhaupt schon einmal ein…?
»Liberty Bell, weißt du, was ein Auto ist?«, fragte er leise, während er sie eindringlich beobachtete. Zuerst reagierte sie gar nicht, aber ihre hellblauen Augen hatten so einen Ausdruck, als denke sie nach. Versuchte sie sich zu erinnern? Konnte es das sein?
»Schattenwelt«, antwortete sie schließlich noch leiser, als er gefragt hatte.
Schattenwelt? Ernesto erinnerte sich daran, dass sie schon mal etwas Ähnliches gerufen hatte, beim letzten Mal, als Darayavahush so plötzlich und unerwartet aufgetaucht war. Richtig, damals hatte sie »Schattenmenschen« gerufen.
»Liberty Bell, was sind… Schattenmenschen? Und was ist die Schattenwelt?«, fragte er, aber die Mauer war wieder da. Ernesto seufzte und Liberty Bells Augen hatten einen traurigen Ausdruck.
»Hey, wird schon wieder«, sagte Ernesto, nur um etwas zu sagen. Irgendetwas, das tröstlich klang in dem ganzen Chaos.
Ein dämmriger Raum mit Lehmboden, gestampftem Lehmboden, dazu etwas wie ein uralter Holzofen, weder fließend Wasser noch Strom, natürlich nicht, aber auch keine Kerzen und kein Bett, sondern nur die Überreste von etwas, was mal eine Matratze oder eine Isoliermatte gewesen sein mochte, ein platter grauer, löchriger Fetzen. Darauf gehäuft trockenes Moos, trockene Blätter und Gras. Diesmal hatte Ernesto zum Glück Zeit, sich in der Hütte umzusehen. Nicht wie vorhin, als Jaden und Cal hier gestanden und Angst und Schrecken verbreitet hatten. Erstaunlicherweise hing eine einigermaßen saubere Gardine vor dem winzigen Fenster, die irgendwie grotesk und fehl am Platz wirkte. Und jetzt, als sich seine Augen an die
Dämmerung gewöhnt hatten, entdeckte er noch mehr Zivilisationsgegenstände. Eine uralte Pfanne auf einer Feuerstelle. Ein Brett mit uralten, zerlesen aussehenden Büchern, die allerdings sorgfältig in Reih und Glied geordnet waren. Und die Luft war gut. Holz, Harz, Wald. Damit hatte Ernesto nicht gerechnet. Irgendwie hatte er angenommen, die Hütte würde muffige, abgestandene Luft absondern, ähnlich wie der kleine Gartenpavillon am hinteren Ende des Gartens seiner Eltern, wo im Winter die teuren Gartenmöbel untergebracht waren.
»Hier wohnst du also«, sagte Ernesto und stellte den umgefallenen Schemel wieder auf.
Schweigen. Liberty Bells Blick hing an dem wiederaufgerichteten Schemel.
In der alten Pfanne mit abgebrochenem Stiel lagen Reste einer Mahlzeit. Ein paar Fliegen schwirrten darüber.
»He, gerade neulich lief eine neue Staffel Survival Camp im Fernsehen …«, sagte Ernesto, nachdem er den Pfanneninhalt in Augenschein genommen hatte. Außer den Resten von grünem Gemüse – Kohl wie es schien – war da noch etwas…
»…da haben sie auch so – ein Zeug gegessen. Heuschrecken, was? Sollen gebraten sogar lecker sein. Und verdammt nahrhaft.«
Ernesto schenkte dem Mädchen ein aufmunterndes Lächeln, aber Liberty Bell schwieg und machte sich daran, den Holzklotz freizuräumen. Ernesto entdeckte eine langzinkige Gabel, einen zerbeulten Blechnapf, der so aussah, als wäre er mal Teil eines Sets aus Kochgeschirr gewesen, und einen Porzellanbecher mit abgebrochenem Henkel. Auf dem Becher stand in schnörkeligen Lettern Best Mommy.
Ob er es noch mal wagen sollte, sie nach ihrer Mutter zu fragen? Oder besser nicht?
»Liberty Bell«, begann Ernesto zögernd. Das Mädchen hielt in ihren Bewegungen nicht inne. Sie war in die Hocke gegangen und machte mit einer Handvoll getrocknetem Gras energische, kreisförmige Bewegungen über den harten, rissigen Lehmboden. Es war die Stelle,
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