Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
sah sie wie eine Wilde aus. Wie ein Mensch aus einem anderen Zeitalter. Ernesto musste für einen Moment an Liza Rodriguez, das Busenwunder, denken. Was würde sie von jemandem wie Liberty Bell halten? Ganz sicher würde sie sich schütteln, sich angeekelt abwenden und Angst haben, sich von ihr Ungeziefer oder eine Krankheit zu holen.
»Liberty Bell, soll ich – kann ich …«, begann Ernesto und hatte das Gefühl, den ungefähr tausendsten Anlauf zu nehmen. »Ich meine, ist es okay, wenn ich heute Nacht hierbleibe?«
Reagierte sie? Nein? Ja? Die Ratte putzte ihr Gesicht und sah dabei für einen Moment etwas weniger eklig aus.
Es war noch dunkler geworden. Hier draußen im Nirvana kam die Nacht in Schüben. Alle paar Minuten kippte ein bisschen mehr Nacht über ihnen aus. Sterne standen plötzlich am Himmel.
Ernesto legte den Kopf in den Nacken. »Manche, die wir sehen, existieren schon gar nicht mehr«, sagte er, nur um etwas zu sagen, und schwieg wieder.
Sie schaute ihn nicht an, aber sie antwortete. Wunderbarerweise antwortete sie. Ernesto wagte kaum zu atmen.
»Sie sterben, genau wie wir«, sagte sie leise. »Aber wenn ein – ein… Stern tausend… Lichtjahre weit weg ist, und er wäre gestern gestorben, dann würden wir auf der Erde das erst in tausend Jahren sehen…«
Ernesto starrte sie an. »Wo-woher weißt du das?«, stotterte er schließlich.
»Meine – Mommy hat es mir gesagt«, sagte Liberty Bell schlicht und es klang, als spräche sie über die normalste Sache der Welt. Logisch, eine Mutter erklärt ihrem Kind die Welt. Okay, nicht unbedingt jede Mutter. Seine zum Beispiel tat es eher nicht.
»Wo ist denn deine – Mommy?«, hakte Ernesto rasch nach und befreite sich mühsam von seiner Mutter, die sich in seinen Kopf geschlichen hatte mit ihrer fahrigen, angespannten, gereizten Art, die ihn schon, solange er zurückdenken konnte, traurig machte. Er gab sich einen Ruck, ehe Liberty Bells Mauer wieder in Aktion treten würde. »Ich… ich meine, meine Mom, zum Beispiel …«, fügte er hastig hinzu. »…sie ist bei uns zu Hause. Meistens jedenfalls. Sie… heißt Sondra. Sondra Merrill. – Wie heißt deine?«
Ernesto schaute Liberty Bell an. Und sie schaute ihn an.
Mauer? Keine Mauer?
»Annie«, sagte sie nach einer gefühlten halben Ewigkeit. »Meine Mom heißt Annie. Das ist ihr… Vorname. – Ihr… ihr – äh, Hintername ist Lyford.«
Hintername statt Nachname. – Ein Fehler, der für… Einsamkeit sprach? Aber andererseits: Bingo! Annie Lyford. Hey, das klang ja hoffnungsvoll banal. Nur, wo zum Teufel, steckte besagte Mrs Lyford? Und warum ließ sie ihre Tochter alleine im Wald versauern?
»Wo ist sie, Liberty Bell? Warum bist du nicht bei ihr?«
Das Mädchen warf ihm einen langen Blick zu, dann bettete sie – Eve, wenn man so wollte, Eve und ihre Nachkommen ans Fußende ihrer Schlafstätte in eine Kuhle aus trockenem Gras.
»Warte. Ja?«, sagte sie hinterher und nestelte an ihrer schmuddeligen Bluse, die weit und lang war und, wenn sie in einem besseren Zustand gewesen wäre, etwas Folklorehaftes gehabt hätte. »Bitte entschuldige, ich muss… mein Wasser abschlagen…«
Ernesto machte ein verwirrtes Gesicht. »Du musst – was?«
Aber Liberty Bell gab keine Antwort, sondern schlüpfte nur aus der Hütte, ihre Schritte verklangen draußen, stattdessen raschelte es im nahen Gebüsch. Gleich darauf kam sie zurück und Ernesto begriff verlegen, dass sie sozusagen zur Toilette gegangen war. Warum hatte er nur so blöd nachgefragt?
Mit einem Stirnrunzeln registrierte sie, dass Ernesto sich auf die Erde gesetzt hatte, direkt vor ihre Schlafstätte, den Rücken an die Wand gelehnt. Aber dann tat sie etwas Erstaunliches. Ernesto wagte kaum zu atmen, denn sie legte sich ohne ein weiteres Wort auf die uralte Matratze und deckte sich sorgfältig mit einer Decke zu, die, wie es schien, aus Artgenossen von Eve zusammengenäht war, eine Art Rattenfellpatchworkdecke. Eve schien das nicht zu stören – und Liberty Bells Scheitel berührte Ernestos Shorts. Sie hatte einen wilden Geruch. Aber keinen schlechten.
Sie schwiegen und Ernesto dachte schon, dass sie eingeschlafen wäre, einfach so, von jetzt auf gleich. Aber dann sagte sie doch noch etwas. »Was – was wollten die beiden… lauten Menschen?«, fragte sie leise. »Was wollten sie von mir? Warum kamen sie?«
Ernesto schaute zu ihr hinunter und sah, dass sie die Augen geschlossen hatte. Sie schien nicht wirklich eine Antwort
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