Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
sozusagen aus der Ferne auf sie auf. Ist ja nicht jeder so ein Arsch wie Cal und Jaden!« Er warf Jaden einen weiteren, wütenden Blick zu.
»Wenn sie überhaupt zurückgekommen ist, nachdem sie sich aus dem Staub gemacht hat«, murmelte Jaden. »Immerhin hat sie versucht, einen Menschen zu killen. Wenn sie nicht völlig unterbelichtet ist, ist sie vielleicht richtig abgehauen…«
»Und Ernesto ihr hinterher, oder was?«, fragte Darayavahush.
»Der kann sich komplett verlaufen haben«, spann Jaden seinen Gedankenfaden weiter. »Immerhin ist sein Mobiltelefon seit über zwölf Stunden tot. Und es ist eine verflixt dunkle Nacht. Vor allem da draußen in der Pampa.«
Sie war eingeschlafen, so schnell, dass Ernesto es fast nicht mitbekam. Er lauschte ihren gleichmäßigen Atemzügen. In der Hütte war es wahnsinnig dunkel, was kein Wunder war. Der Himmel draußen war rabenschwarz und im Inneren der Hütte gab es nichts, was Licht gespendet hätte. Wie laut so eine Nacht im Wald in all ihrer Stille war. Bäume bewegten sich, Gehölz schien zu ächzen, Blätter raschelten und rauschten, Käuze und Eulen schrien und flogen vorüber, ab und zu war das gereizte Krächzen von aufgescheuchten Krähen zu hören. Der Tümpel gluckste, wahrscheinlich tummelten sich diese Rattenbiester darin herum. Auch Liberty Bells Privatvieh war wach, ebenso seine hässlichen Nachkommen. Sie hatten Liberty Bells Lager längst verlassen, huschten unruhig in der Hütte herum und das dicke Tier gab klagende Töne von sich, Nä! Nä! Nä!
Ernesto betete, dass keines der Tiere seine Nähe suchen würde. In den Ecken der Hütte lagen einige Exkremente von ihnen herum, das hatte er vorhin, bevor es gänzlich dunkel geworden war, noch erkennen können.
Wie sollte es nur weitergehen? Ob seine Freunde mitbekommen hatten, was passiert war? Ernesto traute es Jaden zu, dass er ihnen nichts gesagt hatte. Aber bestimmt hatten Salvador oder Ronan bei ihm zu Hause vorbeigeschaut, um ihn zu fragen, ob mit dem Waldmädchen alles in Ordnung war. Und dann wussten sie, dass er nicht zurückgekommen war.
Seine Eltern?
Die hatten vermutlich noch nicht mal mitbekommen, dass er nicht da war. Ernesto hatte manchmal das Gefühl, dass seine Mom seine Gegenwart oft einfach vergaß. Und sein Vater? Der hatte seine Klinik und seine Musik. Vivaldi, Chopin, Rachmaninow. Mehr wollte er, wie es aussah, nicht vom Leben. Höchstens noch Doktor Schiwago, für den er eine für Ernesto nicht nachvollziehbare Leidenschaft hegte. Mindestens einmal im Monat schaute sein Dad sich diesen Kitschfilm in seiner ganzen Bandbreite an, im Wohnzimmer auf dem riesigen Screen, der mehrere Tausend Dollar gekostet hatte, reglos und vertieft.
»Das Rampenhaus ist ein verdammt kaltes Haus«, sagte Darayavahush manchmal. Rampenhaus, weil die Villa in West End Hill vom Keller bis zum Speicher rollstuhlgerecht war. Ein paar Millionen hatte das gekostet, aber Geld war schließlich genug da. Es mangelte eher an anderem.
Woran? Das konnte Ernesto nicht in Worte fassen, aber…
Liberty Bell murmelte etwas im Schlaf. Ernesto hielt die Luft an und richtete sich vorsichtig auf.
… tie a yellow ribbon round the ole oak tree…
Es klang wie gehaucht leises Singen. Sang Liberty Bell im Schlaf? Ihre Stimme klang weicher und weniger gepresst als im wachen Zustand, aber was hatte das zu bedeuten: … binde eine gelbe Schleife um die alte Eiche…? War das ein echter Song? Ein Kinderlied vielleicht?
Liberty Bell umgab etwas eigenartig Kindliches. Dabei schlachtete und häutete sie Tiere, ohne mit der Wimper zu zucken, und konnte sich sogar problemlos gegen einen Typen wie den bulligen Cal Wyludda zur Wehr setzen. Wie alt sie wohl war?
Ernesto seufzte, während Liberty Bell längst wieder verstummt war und sich zur Seite gedreht hatte. Für einen Augenblick streckte er die Hand aus und berührte, warum auch immer, ihren Scheitel, ihre verhedderten, verfilzten Haare. Was sollte nur mit ihr werden? Was würde der nächste Tag bringen?
»Dir sollte jedenfalls jemand den Hals umdrehen, Jaden Franklin, Idiot«, murmelte Ernesto wütend und wusste im Voraus, er würde in dieser Nacht kein Auge zutun. Obwohl er auf der einen Seite schrecklich müde war, war etwas anderes in ihm hellwach.
Die Georgia Avenue hatte drei Highlights. Das Ed’s Corner an der großen Kreuzung, das Milk and Honey, zwei Blöcke vom Ed’s entfernt, und Flavios kleines, krummes Haus ganz am Ende der Straße. Dort waren sie schon oft
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