Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
und er sich wohl verstehen würden, wenn es jemals dazu käme, dass sie sich kennenlernten? Chazza würde wissen, wie sie sich fühlte, auch er war ein Außenseiter und Liberty Bell hatte etwas in ihrer Art, das seiner eindeutig ähnlich war. Diese kerzengerade Art zu gehen. Die schmalen Hände, das Sanfte, aber dennoch Beharrliche.
Ernesto rieb sich die Stirn, er fühlte sich auf einmal schrecklich müde. Der Polizist hinter seinem Rücken wurde durch einen anderen ausgetauscht, Krankenpfleger kamen und gingen, überprüften Sauerstoffgerät, Pulsfrequenz und die verschiedenen Infusionen. Tür auf, Tür zu. Tür auf, Tür zu. Am noch hellen Himmel tauchte eine halbe Mondscheibe auf.
Eine Weile redete er leise mit dem schlafenden Chazza über Liberty Bell, über Jaden, über seine Mutter, die seit Chazzas Unfall noch stiller, noch ferner und entrückter wirkte als sonst. Aber als keine Reaktion kam, verstummte er schließlich.
Irgendwann steckte eine Krankenschwester ihren Kopf durch die Tür, es war eine andere als die von vorhin. Sie machte eine Kopfbewegung auf den Gang hinaus und tippte auf ihre Uhr.
Ernesto seufzte. »Hey Chazza, sie wollen mich mal wieder rausschmeißen«, sagte er. »Ich fürchte, ich muss bald gehen.« Er legte seine Hand auf die langen, schmalen Finger, die so gut Klavier spielen konnten, und in fast dem gleichen Moment sah er, dass Chazza mühsam seine blinden, irgendwie blutunterlaufenen Augen geöffnet hatte. Die blassen Pupillen darin zuckten und rotierten orientierungslos.
»Chazza«, sagte Ernesto erleichtert. »Hey Chazza. Da bist du ja…«
Chazza reagierte, indem er Ernestos Namen flüsterte, ein paarmal hintereinander. Auf einmal wünschte sich Ernesto sehnlich, Chazza summen zu hören. Dabei war ihm das früher so oft auf die Nerven gefallen, dieses Gesumme vor und nach jedem Satz, den er von sich gab.
»Ernesto?«, sagte Chazza wieder, seine Stimme klang belegt und heiser. Er schien in seinem verletzten Kopf nach Worten zu suchen. »…Santa… Clara …«, nuschelte er schließlich mühsam.
»Ja?«
»Die Katze…«
Chazzas Stimme war nur ein Hauch.
»Die Katze? Welche Katze?«, fragte Ernesto verwirrt. Fantasierte der Ewig Summende vielleicht?
»… nicht natürlich…«
Chazzas Stimme gewann einen Hauch an Ton. »Nicht natürlich …«, wiederholte er und tastete mit seinen dünnen Klavierspielerhänden nach Ernestos Hand. »Hörst du?«
»Ja, klar. Ich höre«, antwortete Ernesto angespannt.
»… gestoßen… die Katze… nicht natürlich…« Damit schlossen sich Chazzas Augen wieder. Seine ädrigen Lider zuckten noch einen Moment, dann hörte auch das auf. Starb er etwa? In Filmen starben die Leute immer nach dramatischen, letzten Sätzen – aber in diesem Fall waren Chazzas Worte wohl eher wirr als dramatisch gewesen.
Eine Krankenschwester kam herein und warf einen Blick auf Chazzas reglose Gestalt.
»Ist er …?«, begann Ernesto, aber das war Unsinn, denn Chazzas Herzfunktion war auf dem Monitor weiterhin als rote Zickzacklinie deutlich sichtbar.
Ernesto fuhr sich über die Stirn und tauschte das Ist seiner Frage gegen ein Wird aus. »Wird er…?«
»Nein, wir hoffen nicht«, war die knappe Antwort der Schwester, während sie mit ein paar schnellen Handbewegungen eine leer gelaufene Infusion austauschte. »Aber Sie müssen jetzt wirklich gehen.« Mehr Worte hatte sie anscheinend nicht für ihn und schon gar keinen Trost. Stattdessen drehte sie irgendeinen Regler hoch.
Der Polizist nickte Ernesto zu, als er schließlich aufstand und sich zur Tür wandte. Noch einmal dachte er über das nach, was der blinde Musiker zu ihm gesagt hatte. Die Katze. Nicht natürlich. Santa Clara. Gestoßen…
Wollte Chazza ihm das sagen? Dass jemand ihn gestoßen hatte in dieser Nacht, als er in den Wald gegangen war? Am Santa-Clara-Steinbruch? Dort, wo auch sein Vater vor vielen Jahren verunglückt war?
Und dieser Infusionsschlauch, der sich gelöst hatte und der für die Verschlechterung von Chazzas Zustand verantwortlich war? Wäre wirklich die Polizei hier, wenn das ein Zufall gewesen wäre?
»Bewachen Sie ihn ab jetzt?«, fragte er leise, die Hand schon an der Türklinke.
Der Polizist nickte. »Vorerst jedenfalls«, sagte er und war damit nicht gesprächiger als die Krankenschwester.
»Verdammt«, murmelte Ernesto und zog die Tür hinter sich ins Schloss.
Der Tag war vorüber, die Hitze des Tages hing allerdings noch wie ein schwerer, schwüler Vorhang über
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