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Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)

Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)

Titel: Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johanna Rosen
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den Dachgarten.
    Ernesto holte tief Luft, dann flüsterte er erleichtert: »Gott sei Dank, Nat, dass du da bist. Es geht ihr sehr schlecht heute Abend. Irgendwas mit Chazza. Und dazu ist sie wahnsinnig verwirrt. Viel schlimmer als sonst… Sie… sie erkennt mich nicht, Natasha…«
    Nat, die hübsche, weiche Nat, war ebenfalls nicht wie sonst. Kein Lächeln huschte über ihr rundes, sommersprossiges Gesicht. Kein beruhigendes Kopfnicken, keine beschwichtigende Geste. »Ich weiß«, sagte sie nur brüsk und ohne ihn anzusehen. »Kommen Sie, Sondra… Nun kommen Sie! Ich – werde Ihnen helfen, wie immer…«
    Ernesto runzelte die Stirn.
    »Natasha, ist mit dir denn alles in Ordnung?«, fragte er vorsichtig, während er zusah, wie die polnische Haushälterin seine Mutter eine Spur ungeduldig am Arm nahm und den leicht abschüssigen Rampenweg hinunterführte wie ein Kleinkind, das die ersten wackeligen Schritte lernt.
    »In Ordnung? Nein, nichts ist in Ordnung, Ern. Wie sollte es auch?«, antwortete Natasha Zlotsky leise, dann sprach sie polnisch weiter und Ernesto kam es aus irgendeinem Grund so vor, als ob sie betete und dabei weinte. Und außerdem hatte er das schreckliche, aber sichere Gefühl, dass alles um ihn herum in winzig kleine Stücke zersplitterte, die nicht mehr zusammenzufügen waren.
    Es war Nacht. Mitternacht war längst vorüber. Sie zitterte. Wenn doch schon alles vorüber wäre. Wie lange sollte dieser Albtraum noch dauern? Würden überhaupt noch mal Tage kommen, die frei von dieser andauernden Angst sein würden? Dem Leid, das über allem lag – immerzu?
    Einmal, vor vielen Jahren, hatte es einen Wintertag gegeben, an dem alles überfroren war. Erst hatte es den ganzen Tag geregnet, aber am Abend war plötzlich eine große Kälte gekommen, die die Welt glasiert hatte. Jedes Blatt, jeder Halm, jedes noch so kleine Ästchen bekam eine durchsichtige Eisschicht, und als der Wind durch die Straßen geweht hatte, klirrten die einzelnen Nadeln der Kiefern des Kiefernwäldchens aneinander.
    »Sternenmusik«, hatte der alte Flavio wehmütig gesagt. Jeder Stein auf der Straße war wie aus Glas gewesen. »Jedes Klingeln bedeutet das Aufsteigen einer Kinderseele, die zum Himmel fährt. Ach, ich habe so viele Kinder sterben sehen – damals in Vietnam… Niemand hatte mich auf dieses große, entsetzliche Sterben vorbereitet – niemand…«
    Eine Träne war über sein verlebtes Gesicht gelaufen. »Aber nicht alle sterben. Nein, nicht alle. Manche bekommen ihre Chance, Gott sei Dank.«
    Diese Worte hatten sie, die jetzt im Schutz der Dunkelheit die Georgia Avenue entlangeilte, mitten ins Herz getroffen.
    Ja, manche bekamen ihre Chance. Aber der Preis dafür konnte hoch sein… So hoch…
    Sie erreichte Flavios kleines, geducktes Haus am Ende der langen Straße. Ein Zweitschlüssel für das marode Türschloss lag, wie sie wusste, in einer kleinen Pappschachtel auf dem obersten Regalbrett eines Werkzeugregals im Schuppen, der sich im Schatten des Hauses an dessen Giebel anzulehnen schien und noch baufälliger aussah als das Haus. Im Inneren des Hauses war es dunkel und die Luft roch leicht muffig. Sie bewegte sich so leise und schnell wie möglich. Und weil sie Flavios Behausung kannte, kam sie gut zurecht. Ein paar Bodendielen waren lose, aber sie knarrten nur schwach und Flavio hatte, wenn er erst einmal schlief, einen gesunden Schlaf, auch wenn er das regelmäßig bestritt und über Schlaflosigkeit klagte. Da – da lag er in seinem alten Bett, die Jalousie war nicht ganz heruntergelassen, weil der alte Mann sich vor der totalen Finsternis fürchtete. Sie trat näher, ihre Hände bebten. Sie wusste, was zu tun war. Alles war sorgfältig geplant. Sie betrachtete einen Augenblick sein altes, eingefallenes Gesicht und fühlte, wie sich ihr Magen vor Angst hob.
    Später, als alles vorbei war, sah sie noch einen Moment lang auf ihn herunter. »Verzeih mir, Flavio«, sagte sie, dabei wusste sie, dass ihr Vergebung in diesem Leben nie mehr vergönnt sein würde. »Bitte, verzeih mir«, flüsterte sie trotzdem noch einmal und ging schwerfällig davon.
    »Jetzt kennst du uns also alle«, sagte Ronan, nachdem Ernesto ihn abgeholt hatte, und lächelte Liberty Bell zu. Er war sonnengebräunt und sah, trotz der schrecklichen Geschichte mit Jaden, die ihn nach Hause getrieben hatte, erholt aus.
    Ernesto musste daran denken, dass es ursprünglich ja Ronan gewesen war, der Liberty Bell entdeckt hatte. Ob er die Aufnahme noch

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