Liberty Bell: Das Mädchen aus den Wäldern (German Edition)
schätze ich, wenn es nicht gerade im Meer ersäuft«, hatte Dara zum Abschied gesagt. »Oder verfällst du ohne die struppige Ratte in deiner Nähe wieder in dumpfes Brüten.« Er zwinkerte Liberty Bell zu.
»Nein. Obwohl sie mir alle sehr – fehlen«, antwortete sie traurig. »Aber er muss zurück. – Wenigstens er…«
Sie schaute bedrückt nach draußen auf die dicht vorbeifahrenden Autos, auf Busse, Menschen und auf das lang gestreckte Gebäude am Rand der Hauptstraße, neben dem Ernesto für Dara angehalten hatte. Es war eine kleine heruntergekommene Ladenzeile, erst eine Tankstelle, dann ein Schnellimbiss, Friseurladen, Supermarkt, DVD-Verleih und ein paar andere, kleinere Geschäfte.
»Schattenwelt«, sagte sie leise und man sah ihr an, dass sie an Annie Lyford dachte.
»Ihr wartet hier«, sagte Ern, als sie kurz darauf die Einfahrt zur Villa seiner Eltern erreichten. »Ich beeile mich …« Er schlug die Tür hinter sich zu. Insgeheim hatte er befürchtet, dass sie sich alle hier zusammengerottet hatten, um sie in Empfang zu nehmen: Baz, das Ärzteteam und – im schlimmsten Fall – die Bullen und Channel 77. Aber Baz vertraute ihm und seinem Versprechen, sie heil in die Klinik zurückzubringen, offenbar. Tja, Pech gehabt.
Ernesto betrat das Rampenhaus. Nirgends brannte ein Licht.
Eins, zwei, drei Katzen huschten vorüber, anscheinend hatte seine Mutter für Nachschub gesorgt. Sechs blaue Katzenaugen blitzten auf und verschwanden wieder. Mrs Merrill kaufte niemals Katzenbabys, jede gestorbene Siamkatze wurde durch eine ausgewachsene, teure Katze ersetzt, die aus den Niederlanden in Europa eingeflogen wurden. Ernesto betrat den Dachgarten, der in japanischem Stil hergerichtet war. Liberty Bells Ratte war in den letzten Wochen zu einem ewigen Streitthema im Haus geworden. Keiner wollte ihren Mief und ihr Gejammer ertragen, aber auch im japanischen Garten war sie nicht gerne gesehen, obwohl man ihren strengen Geruch und den Krach, den sie machte, dort oben kaum wahrnahm.
Ernesto passierte den Bewegungsmelder, der Dachgarten erhellte sich wie durch Geisterhand und war gleich darauf in ein warmes oranges Licht getaucht.
»Mom…?«, stotterte Ernesto überrumpelt, als er seine Mutter entdeckte, die in einen Morgenrock gehüllt am Rand des Gartens stand. Ihr Gesicht war blass, die Augen waren weit aufgerissen, aber trotzdem merkwürdig ausdruckslos. Sie stand an einen der gedrechselten Außenpfeiler gelehnt und starrte in die Ferne.
»Mom, was machst du denn hier? Du solltest nicht alleine hier oben sein. Wo ist denn Nat? Ist sie nicht im Haus?«
»Ich …«, sagte Mrs Merrill, die herumgefahren war. »Er… Ich meine…«
Sie bewegte sich wie in Trance. Zweimal schluchzte sie auf, aber es kamen keine Tränen und eigentlich auch kein wirkliches Weinen. »Er… es… geht… ihm…endlich… besser …«, sagte sie schließlich mühsam. Ihre Zähne schlugen aufeinander und sie schwankte leicht.
»Mom, was hast du? Wem geht es besser? Chazza? Aber das ist doch eine gute Nachricht!«
Ernesto machte einen raschen Schritt auf seine Mutter zu. Verdammt, wie leicht konnte sie vom Dach hinunterstürzen. Der Zaun aus Bambusrohr war jedenfalls kein wirkliches Hindernis.
Sie nickte schwach. »Ja. Chazza Blume, der mein – Freund ist. Aber sie haben ihn… weggebracht… Weit weg… Sie sagen mir nicht, wohin…«
Ernesto nahm seine Mutter am Arm.
»Sie werden ihn von der Intensivstation verlegt haben, wenn es ihm besser geht«, sagte er behutsam. »Mach dir keine Sorgen. Komm, ich bringe dich zurück nach unten, okay?« Der Arm seiner Mutter fühlte sich zerbrechlich an. Er dachte an Jadens Mutter, an Darayavahushs, an Moses. Keiner hatte eine Mutter wie er. Eine Mutter, die ein Gespenst war, statt ein Mensch aus Fleisch und Blut.
»Ich… ich glaube, ich weiß, wer… du bist«, sagte Mrs Merrill in diesem Moment mit einem traurigen Lächeln. Das Sprechen fiel ihr sichtlich schwer. »… Bartosz, nicht wahr? Natashas – kleiner Sohn. Geht… es… dir… endlich… besser? All die Operationen… Dein kleines… Herz…«
»Mom«, fragte Ernesto hilflos.
Sie sah ihn an. »Ich hatte auch mal ein… Kind. Einen kleinen Sohn… Ernesto hieß er… Sie – haben ihn mir weggenommen… damals, als alles so leer wurde. In mir. Ich erinnere mich wieder, verstehst du? An ihn… Aber ich finde ihn nicht mehr. – Weißt du vielleicht, wo er ist, Bartosz, Lieber?«
Zum Glück betrat in diesem Moment Natasha
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