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Licht

Titel: Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
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es.«
    Er zuckte krampfartig. Staubwölkchen traten aus der sich unmerklich verändernden Oberfläche seines Körpers. Der Algorithmus ließ keine Größenordnung aus. Das blanke Entsetzen stand ihm in den Augen. Damit hatte er nicht gerechnet. »Es frisst mich auf!«, schrie er. Er ruderte mit den Armen, griff nach der Toten, als könne sie ihm helfen. Er packte auch nach Seria Maú, vergebens. Dann hatte er sich wieder unter Kontrolle. »Je mehr du die Kräfte in deinem Innern verleugnest, Kind, desto mehr kontrollieren sie dich«, sagte er. Seine Hand ging durch sie hindurch wie durch Rauch. Er starrte auf die Hand. »Ist das ein Traum?«, fragte er.
    »Billy Anker, was soll ich tun?«
    »Dein Schiff. Lass es verschwinden. Bring es in den Trakt.«
    »Billy, ich…«
    Über ihnen jagten violette Spuren von Ionisation über die Scheibe des Gasriesen. Es pfiff, dann eine heftige, schlagartige Luftverdrängung; dann noch einmal; dann ein mächtiger smaragdgrüner Feuerball irgendwo im Orbit, als die White Cat sich zur Wehr setzte, höchstwahrscheinlich gegen die Avancen der Krishna-Moire- Herde.Plötzlich war Seria Maú halb da oben bei ihrem Schiff und halb hier unten bei Billy Anker. Das ganze Kontinuum zwischen diesen beiden Zuständen war ein einziger schriller Alarm, und die Mathematik versuchte das Double hereinzuholen.
    »Lass mich!«, schrie sie. »Ich will bei ihm bleiben. Jemand muss doch bei ihm bleiben!«
    Billy Anker lächelte und schüttelte den Kopf.
    »Mach, dass du wegkommst, Kind. Das da oben ist Onkel Sip. Geh, solange du noch kannst.«
    »Billy Anker, ich habe sie auf deine Fährte gesetzt!«
    Er sah müde aus. Er schloss die Augen.
    »Das habe ich selbst besorgt, Kind. Los, verschwinde! Und zwar gründlich!«
    »Adieu, Billy Anker.«
    »He, Kind…«
    Doch als sie sich umdrehte, war er schon tot.
    Ich bin darauf hereingefallen, dachte sie verzweifelt. Die ganze Fickerei und das ganze Geballere. Trotz aller guten Vorsätze bin ich drauf reingefallen.
    Dann dachte sie: Onkel Sip! Panische Angst zerriss die Verbindung: Sie hatte den dicken Mann gewaltig unterschätzt, seine Intelligenz, seine Reichweite. Von dem Moment an, da sie sich mit ihm eingelassen hatte, hatte er sie in der Hand gehabt.
    Was jetzt?

 
24
     
Die Würfel fallen
     
    »Wenn ich die Zukunft voraussage, wieso sehe ich dann immer die Vergangenheit?«, fragte Ed.
    Sandra Shen zuckte knapp die Achseln, das war alles. Sie konnte ihm da genauso wenig helfen wie Annie Glyph.
    »Ich denke, wir brauchen Übung, Ed«, sagte sie. Sie zündete sich eine Zigarette an und musterte amüsiert einen nicht vorhandenen Gegenstand in der Ecke des Zimmers. »Ich denke, wir müssen härter arbeiten.«
    Ed wusste ihren ignorierenden Blick nie zu deuten. Wenn sie an etwas Freude hatte, dann vermutlich an dem Debakel im Hauptzelt. Es schien sie förmlich aufzuladen: Die anderen Projekte lagen auf Eis, und sie war täglich vor Ort. Sie warf die alten Männer ein für alle Mal aus der Bar des Dunes Motel. Er kam dazu, als sie dabei war, den Raum mit ihren eigenen Sachen auszustatten, die sie nachts in anonymen Kisten herbeischaffte. Das Zeug war ausnahmslos alt. Auffallend die mit Textilien umkleideten elektrischen Kabel, die Bakelitgehäuse und die Skalen, auf denen winzige Nadeln nach links und rechts tanzten. Und es gab so etwas wie einen Verstärker, der mit Röhren arbeitete.
    »Jesus«, sagte er. »Das hat Geschichte!«
    »Hübsch, was?«, sagte Sandra Shen. »Um die vierhundertfünfzig Jahre alt. Ed, es ist Zeit, dass wir es anpacken. Teamarbeit, verstehst du? Wichtig ist, dass ich dir diese Riemen um die Handgelenke schnalle…«
    Was ihr vorschwebte war, dass Ed dasaß, Arme und Beine an Armlehnen und Beine eines schweren, klobigen Holzstuhls geschnallt, der mit dem Rest des Inventars kommen sollte, während Sandra Shen sich an den Röhrenverstärker anschloss. Dann wollte sie Ed das Aquarium über den Kopf stülpen und ihm so lange Fragen stellen, bis sie eine Antwort erhielt, die ihr passte… Ihre Stimme war ganz nahe und intim, als sei sie bei ihm da drinnen, bei ihm und den Aalen auf ihrer verrückten, ermüdenden Reise am Grund der Alcubiere-See, mit Kurs auf eine unangenehme Enthüllung aus seiner Jugend. Die Fragen waren ohne Bedeutung für Ed.
    »Ist das Leben eine Hexe, Ed?« Oder: »Kannst du bis zwölf zählen, Ed?«
    Er hörte ohnehin nicht, was er antwortete. Der Teil von ihm, der sich im Aquarium befand, schien irgendwie nicht mehr

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