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Licht

Titel: Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
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Es war ein Risiko gewesen. Aber was erreichte man ohne Risiko?
    »Du kannst jetzt sein, was du bist«, wiederholte er.
    Das, was er gemacht hatte, erhob sich und schlug unsicher mit den Flügeln. »Das ist schwer«, sagte es. »Soll ich denn wirklich so groß sein?« Es versuchte auf sich zurückzublicken. »Ich kann mich ja gar nicht sehen«, sagte es. Es schlug wieder mit den Flügeln. Elektromagnetische Begleiterscheinungen hoben Staub von der Oberfläche. Der Staub blieb in der Schwebe, aber sonst geschah gar nichts.
    »Ich denke mal, wenn du fleißig übst…«, machte Dr. Haends ihm Mut.
    »Ich habe Angst«, sagte es. »Ich komme mir so blöd vor.«
    Es lachte.
    »Wie seh ich denn aus?«, sagte es. »Bin ich noch Seria Maú?«
    »Ja und nein«, sagte Dr. Haends. »Dreh dich um. Lass dich ansehen. Joi, wie schön du bist. Du musst nur noch ein bisschen üben.«
    Seria Maú drehte sich und drehte sich. Sie spürte, wie sich das Licht in ihren Flügeln verfing.
    »Sind das Federn?«
    »Nicht ganz.«
    Sie sagte: »Ich weiß nicht, wie das funktioniert!«
    »Es wird jede Gestalt annehmen, die du dir wünschst«, versprach Dr. Haends. »Du kannst das sein oder du kannst was anderes sein. Du kannst eine weiße Katze sein und dich zwischen den Sternen tummeln. Oder warum nichts Neues probieren? Mir gefällt es«, sagte er. »Ja! Und jetzt! Siehst du? Es geht doch!«
    Sie stieg und kreiste unbeholfen über seinem Kopf. »Ich weiß nicht, wie man das macht!«, rief sie herunter.
    »Ein paar Runden! Ein paar mehr! Siehst du?«
    Sie drehte noch ein paar Runden. »Ich mach das gar nicht schlecht«, rief sie. »Ich glaube, das liegt mir.« Die Schattenoperatoren flogen zu ihr hinauf. Sie gesellten sich zu ihr, raunten vor Entzücken und klatschten mit ihren knochigen, zerarbeiteten Händen. »Ihr habt so gut auf mich aufgepasst«, gratulierte sie ihnen. Dann fasste sie die White Cat ins Auge.
    »Die ganzen Jahre!«, staunte sie. »Bin ich das gewesen?«
    Sie vergoss etwas, das Tränen hätten sein können, wenn man denn bei einem so bizarren Organismus – der so riesig und so zerbrechlich und in jedem Augenblick das Produkt seiner eigenen Wünschen war – von Weinen sprechen konnte. »Ach, du liebe Zeit«, sagte sie. »Ich weiß nicht, wie mir zumute ist.« Plötzlich lachte sie. Ihr Lachen füllte das Vakuum. Es war das Gelächter von Elementarteilchen. Sie lachte auf allen Ebenen. Sie probierte aus, was sie alles sein konnte: Da gab es so viel; da gab es immer noch mehr. »Gefällt dir das?«, rief sie nach unten. »Ich glaube, das andere gefiel mir besser.« Ihre Schwingen erinnerten nicht mehr an Gefieder und das Kefahuchi-Licht lief wie ein Lauffeuer von Spitze zu Spitze. Seria Maú Genlicher lachte und lachte und lachte.
    »Lebe wohl«, rief sie nach unten.
    Urplötzlich stieg sie, schneller als selbst die Augen eines Dr. Haends waren. Ihr Schatten huschte über ihn hinweg und verschwand.
    Als sie fort war, stand er noch eine Zeit lang zwischen dem verwaisten K-Schiff und den Überresten des Physikers Michael Kearney. Er war erschöpft, konnte aber noch keine Ruhe finden. Er bückte sich und hob die Würfel auf, die Michael Kearney hierher gelegt hatte. Er drehte und wendete sie bedächtig; legte sie wieder zurück. »Das war mühsam«, sagte er. »Die können mühsamer sein als man denkt.« Nach einer Weile schlüpfte er in eine Gestalt zurück, in der er sich wohler fühlte, und stand eine ganze Zeit da und blickte zum Kefahuchi-Trakt empor, ein kleines, pummeliges Ding mit einem riesigen Krummschnabel und einem kastanienbraunen Wollmantel, besudelt mit Fett- und anderen Flecken.
    »Na ja«, murmelte es. »Den Rest schaffen wir auch noch.«

 
33
     
Ed Chianese würfelt ein letztes Mal
     
    Die Perfect Low tauchte aus dem Wurmloch. Ihr Antrieb lief aus und zerfiel in seine Komponenten. Ein, zwei Minuten lang schien sie ihre Optionen zu überdenken, dann flitzte sie durch den lokalen Raum, um wenig später über einem Asteroiden direkt vor dem Kefahuchi-Trakt zu parken.
    Ed Chianese hing mit offenem Mund und schwer atmend im Pilotensessel. Abgesehen von der Hand auf seinen Genitalien erinnerte er an The Death of Chatterton (* Ölgemälde (1856) von Henry Wallis. Gegenstand des Bildes ist der Freitod des englischen Dichters Thomas Chatterton (1752-70).) ; und sollte er träumen, so gab es keinerlei Anzeichen dafür. Die kleine Orientalin mit ihrem goldenen, bis zum Oberschenkel geschlitzten Cheongsam blickte mit

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