Licht (Gone) (German Edition)
ziehen zu können.
Sollte sie am Ende doch hier rauskommen, könnte sie ja Medizin studieren. Dazu müsste sie aber noch drei Jahre die Schulbank drücken und anschließend aufs College gehen. Erst danach könnte sie sich um einen Platz an der medizinischen Fakultät bewerben.
Sie hatte mit ihrer Mom »gesprochen«. Ihre Mutter wollte allen Ernstes wissen, ob sie auch ab und zu für die Schule gelernt hatte. Was sollte man auf so eine Frage antworten? Sie hatte nicht mehr durchgeschlafen seit … seit Ewigkeiten. Seit einem Jahr war sie jede Nacht im Einsatz gewesen, hatte den Kids kalte Wickel gemacht, um das Fieber zu senken, ihnenden Eimer hingehalten, wenn sie kotzen mussten, und ihnen den Hintern abgewischt, wenn sie Durchfall hatten. Sie hatte durchgehalten, bis der Killerhusten ausbrach und die Leute von den mörderischen Insekten befallen wurden.
Daran war sie zerbrochen. Eine Zeit lang. Doch dann war sie wieder auf die Beine gekommen.
Dahra ruhte sich ein wenig aus, trank einen Schluck Wasser, wünschte, sie hätte etwas zu essen dabei, rechnete damit, am See etwas zu kriegen, und fuhr weiter.
Warum tat sie das eigentlich? Wozu ging sie dieses Risiko ein? Weil sie sich bisher nie in Gefahr gebracht hatte, den Kämpfen immer aus dem Weg gegangen war? Weil sie wenigstens einmal die Heldin spielen und nicht bloß diejenige sein wollte, die die Helden verarztete? Das war doch blöd!
Im Schatten unter den Bäumen war es kühl. Die Straße stieg aber bergan und brachte sie gleich wieder ins Schwitzen.
Der quer über der Fahrbahn liegende Ast tauchte so unvermutet auf, dass er das Rad unter ihr wegriss. Sie flog über die Lenkstange und schlug auf dem Asphalt auf, bevor ihre Hände reagieren und den Aufprall dämpfen konnten.
Dahra lag keuchend und benommen auf dem Bauch, im Mund den metallischen Geschmack von Blut. Vorsichtig streckte sie der Reihe nach ihre Gliedmaßen. Sie konnte die Beine bewegen. Die Arme auch. Ihre Handflächen und Knie waren aufgeschürft, aber sie hatte sich nichts gebrochen. Ihr Unterkiefer fühlte sich seltsam an. So als hätte er sich verschoben, doch als sie ihn hin und her bewegte, schien alles in Ordnung zu sein.
Erst als sie sich langsam hochstemmte und die Beine anzog, um auf die Knie zu kommen, spürte sie ein Stechen im Knöchel. Sie tastete ihn ab. Er schwoll bereits an und tat scheußlich weh.
Der Vorderreifen ihres Rads war verbogen. Das konnte sie also vergessen – mit dem verstauchten Knöchel hätte sie ohnehin nicht mehr fahren können.
Sie unterdrückte die in ihr hochsteigende Panik. Bis zum See waren es noch mindestens acht bis zehn Kilometer. Luftlinie. Auf einem Bein hüpfend ein weiter Weg.
Sie blickte sich nach einem Stock um.
»Im Wald sollte es eigentlich eine Menge Stöcke geben«, sagte sie laut, weil sie hoffte, der Klang ihrer Stimme würde ihr Mut machen. Stattdessen führte er ihr nur noch deutlicher vor Augen, wie mutterseelenallein sie war.
»Du schaffst das«, sagte sie sich.
Der tiefe Wald und ihr Instinkt sagten ihr etwas anderes.
Als die Seuchen überstanden gewesen waren und sie zusammengebrochen war, hatte sie schon so etwas geahnt. Denn dass sie selbst nicht daran gestorben war, war ihr wie ein Fingerzeig vorgekommen – so als hätte sie ihr letztes bisschen Glück aufgebraucht. Mit der jetzigen Aktion hatte sie das Schicksal noch einmal herausgefordert, und das zu einem Zeitpunkt, zu dem das Ende der FAYZ absehbar schien.
»Bloß, um eine Nachricht zu überbringen?«, fragte sich Dahra bestürzt.
Sie saß am Straßenrand und brach in Tränen aus.
Zwölf
44 Stunden
Gaia hatte lange geschlafen und schien dabei nicht nur älter geworden zu sein, sondern sich auch geheilt zu haben. Sie war als Sieben- oder Achtjährige mit schweren halbseitigen Verbrennungen eingeschlafen und als vollständig geheilte Zehnjährige wieder aufgewacht.
Diana hatte nichts getan, um sie zu wecken.
Schlafende Monster soll man nicht wecken.
Alex war während der langen Nacht wie im Delirium gewesen. Nach Sonnenaufgang war er mehrmals weinend aufgewacht und dann wieder in einen unruhigen Schlaf gefallen.
Diana hatte es vermieden, zu dem inzwischen fast vollständig aufgegessenen Arm hinzusehen, der neben der leise schnarchenden Gaia lag.
Als die Sonne hoch am Himmel stand, war Gaia schlagartig wach geworden, wortlos aufgestanden und hinter einem Baum zum Pinkeln verschwunden. Danach hatte sie sich denArm vorgenommen und ihn bis auf die Knochen
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