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Licht über den Klippen

Licht über den Klippen

Titel: Licht über den Klippen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Kearsley
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dass es nur einen einzigen Pfad
durch den Wald gab?
    Der zweite Weg lag im Schatten und führte in Richtung Klippen und
Meer. Der Bewuchs an den Rändern bewies, dass er nicht gerade erst angelegt
worden war, und außerdem entdeckte ich tiefe Fußspuren, die jemand nach dem
Regen hinterlassen hatte.
    Verwirrt betrachtete ich den altbekannten Pfad. Felicity und Susan
waren so weit vor mir, dass ich sie nicht mehr sehen konnte. Ich rief: »Susan?«
    Keine Antwort.
    Da ließ der Wind die Äste und Blätter über mir erzittern; wieder
veränderte sich die Umgebung, und mir wurde schwindelig. Ich schloss die Augen.
    In dem Moment brach etwas durch die Farne neben mir, und mir blieb
vor Schreck fast das Herz stehen. Kurz darauf spürte ich eine schnüffelnde
Schnauze an meinem Bein. Als ich vorsichtig die Augen öffnete, sah ich, dass
Samson von seinem Jagdausflug zurückgekehrt war, mit einem Zweig, der sich in
seinem wedelnden Schwanz verfangen hatte.
    Ich holte tief Luft und hob den Blick zu den Bäumen. Alles war wie
immer: ein Weg durch den Wald, jeder Baum an seinem Platz und Felicity und
Susan vor mir.
    Als meine Knie zu zittern aufhörten, folgte ich ihnen.
     
    Das Mittagessen zog wie hinter einem Vorhang an mir
vorbei. Ich folgte dem Gespräch so weit, dass ich an den richtigen Stellen
nicken konnte. Hin und wieder trug ich sogar selbst etwas dazu bei. Aber
eigentlich war ich nicht bei der Sache, und Claire merkte das.
    Nach dem Lunch, als wir mit Keksen und Tee auf die Terrasse hinters
Haus gingen, nahm sie mich beiseite. Claires Garten hatte aufgrund seiner Nähe
zu den hohen Bäumen des Wilden Walds etwas Märchenhaftes. Was hier gedieh,
musste sich mit Schatten begnügen. Geißblatt bedeckte die kornische Hecke, jene
halbhohe Steinmauer im für diesen Teil Cornwalls so typischen dichten Fischgrätmuster,
und dahinter wuchsen weiche Farne und eine tropisch anmutende hohe stachelige
Pflanze. In der Mitte des Gartens, die die Sonne immer erreichte, hatte Claire
eine Sonnenuhr aufgestellt und die Erde rundherum umgegraben.
    Während Felicity und Susan in dem Fotoalbum blätterten, sagte
Claire: »Komm, Eva, hilf mir, die Blumen einzupflanzen.«
    Sie gab mir ein Paar Arbeitshandschuhe und eine Kelle und führte
mich zu der Sonnenuhr, unter der Setzlinge in kleinen Plastiktöpfen standen.
»Hier.« Sie reichte mir ein dürres Pflänzchen, dessen empfindliche Wurzeln in
einem Erdballen steckten, und ich kniete neben ihr nieder. Anfangs arbeiteten
wir noch schweigend: schaufeln, einsetzen, festklopfen,
einen kleinen Wall drumherum, um das Regenwasser zu halten, nach der nächsten
Pflanze greifen, wieder schaufeln, einsetzen, festklopfen

    Der gleichförmige Rhythmus beruhigte mich. Das Sonnenlicht fiel auf
den goldenen Claddagh-Ring an meiner Hand. »Tante Claire?«
    »Ja?«
    »Darf ich dich was fragen?«
    »Natürlich.«
    »Als Onkel George gestorben ist …« Nein, das war nicht der richtige
Anfang. »Hat dein Gehirn dir nach dem Tod von Onkel George Trugbilder vorgegaukelt?«
    »Was für Trugbilder?«
    »Hast du Dinge gesehen, die gar nicht da waren?«
    Claire hob den Blick. »Ist das bei dir so?«
    »Manchmal. Und ich höre Dinge.«
    »Du meinst die Stimmen in deinem Zimmer. Mark hat es gestern
erwähnt.«
    Ich formte vorsichtig einen kleinen Erdwall. »Hält er mich für
verrückt?«
    »Aber nein.« Sie zupfte eine welke Blüte von einer Pflanze, bevor
sie sie einsetzte. »Unser Körper muss in der Trauer mit vielem fertigwerden.
Und um deine Frage zu beantworten: Ja, mein Gehirn hat mir nach dem Tod von
George tatsächlich Dinge vorgegaukelt. Das tut es nach wie vor. Manchmal rieche
ich noch sein Rasierwasser. Diesen Frühling ist es fünf Jahre her; trotzdem
habe ich hin und wieder das Gefühl, als wäre er in der Nähe. Hab Geduld, Eva.
Nach einer Weile wird es leichter.«
    Ich war bei der letzten Pflanze angekommen. »Ja, ich weiß.«
Schaufeln, einsetzen, festklopfen.
    »So, das wär’s«, sagte Claire, wischte die Hände an ihrer Hose ab und
begutachtete zufrieden unser Werk.
    Auch ich erhob mich, und zum ersten Mal betrachtete ich die
Sonnenuhr genauer. Das Podest aus Stein hatte anmutig geschwungene Linien, und
die Wetterfahne oben, die den Stand der Sonne mit erhobenen römischen Ziffern
anzeigte, war geformt wie ein Schmetterling mit geschlossenen Flügeln. Um den
oberen Teil verlief ein Schriftzug, Zeilen eines Gedichts:
    Der Schmetterling zählt nicht
Monate, sondern Momente und hat Zeit

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