Licht über den Klippen
genug.
Ich zeichnete die Buchstaben mit dem Finger nach.
»Schönes Gedicht, nicht wahr?«, fragte Claire. »Von Rabindranath
Tagore. Ich mag seine Werke. Felicity hat sich selbst übertroffen, finde ich.«
»Felicity hat die Buchstaben eingemeißelt?«
»Ja, das ist ihr Beruf«, bestätigte Claire. »Sie ist eine sehr begabte
Bildhauerin.«
»Sieht ganz so aus.«
Der Bronzeflügel des Schmetterlings warf seinen langen Schatten
zwischen die römischen Zahlen eins und zwei; Claire verglich die Zeit auf ihrer
Armbanduhr. »Die Sonnenuhr geht absolut genau«, stellte sie fest. »Diese
altmodischen Dinge haben schon etwas.« Sie ließ sich die Brise, die gerade
aufkam, um die Nase wehen. »Das keltische Verständnis vom Leben, dass diese
Welt und die nächste gar nicht so getrennt voneinander sind, wie wir meinen,
hat mich schon immer angesprochen. Meine Großmutter kam aus Wales, war eine
echte Keltin. Flüsternde Stimmen in ihrem Haus hätten sie nicht erschüttert.
Sie hätte gesagt, dass du die Stimmen von Menschen gehört hast, die zu einer
anderen Zeit in Trelowarth lebten und den Raum mit uns teilen.«
Ich gestand ihr, dass mir diese Vorstellung gefiel.
»Mir auch«, pflichtete Claire mir bei. »Vielleicht hast du dir die
Stimmen doch nicht eingebildet.«
»Das sagst du nur, damit ich nicht das Gefühl habe, den Verstand zu
verlieren.«
»Und, funktioniert’s?«
»Irgendwie schon.« Ich ließ mich von ihr umarmen. »Danke.«
»Keine Ursache.«
Sie drehte sich um und schaute hinüber zu Susan und Felicity, die
nach wie vor über das Album gebeugt saßen. »Habt ihr zwei immer noch nicht genug
über meine Klamotten von damals gelacht?«, rief sie ihnen zu.
»Nein«, rief Susan zurück. »Wir wählen gerade ein paar Fotos für die
Teestube aus.«
»Die hänge ich eigenhändig wieder ab.«
»Nicht von dir«, beruhigte Susan sie lachend. »Vom Gewächshaus. Zum
Beispiel dieses hier.« Sie kam mit dem Album zu uns.
»Ach«, sagte Claire. »Ja, das ist hübsch.«
»Wolltest du Claire nicht über die Teestube befragen, in der ihre
Großeltern sich kennengelernt haben?«
»Ja.«
Felicity gesellte sich ebenfalls zu uns. »Deine Großeltern haben
sich in einer Teestube kennengelernt?«
»Ja.«
»Erzähl die Geschichte«, forderte Susan Claire auf. »Sie ist
romantisch. Besonders der Teil, in dem dein Großvater sich auszieht.«
Claire schmunzelte. »Das hat er nicht gemacht.«
»O doch. Er ist aus seinem Hemd geschlüpft.«
»Aus Höflichkeit.«
»Das sagen sie alle«, lautete Felicitys Kommentar.
»Es hatte zu regnen angefangen«, begann Claire. »Und die Reisegruppe
meiner Großmutter – sie war mit Freunden aus dem walisischen St. David’s nach
Cornwall gekommen – hat vollkommen durchnässt in der Teestube Schutz gesucht,
um sich aufzuwärmen. Mein Großvater hat an dem Tag dort gearbeitet; er war
Klempner. Als er sie sah, war es um ihn geschehen.«
Susan führte die Geschichte fort. »Er ist an ihren Tisch gegangen,
hat sich das Hemd vom Leib gerissen, und …«
»Nein, es war längst nicht so dramatisch«, widersprach Claire. »Weil
sie vor Kälte zitterte, hat er ihr sein trockenes Hemd gegeben. Ein echter
Gentleman eben. Allerdings wurde meine Oma den Verdacht nie los, dass er es nur
getan hat, um seinen durchtrainierten Körper herzeigen zu können.«
»Wie hieß die Teestube?«, erkundigte sich Susan.
»The Cloutie Tree.«
Passend für Cornwall, dachte ich. Cloutie trees , oft Dornbüsche, sind eine keltische
Tradition und wachsen bei heiligen Brunnen. Pilger binden clouts , in Wasser getauchte Stoffstücke, gegen
Krankheit und Wunden daran. Wenn das Tuch sich in der Witterung allmählich
auflöst, verschwindet angeblich die Krankheit. Am heiligen Brunnen des nicht
allzu weit entfernten St. Non’s gab es einen solchen Baum.
»Die Cloutie-Tree-Teestube«, sagte Susan. »Ich glaube, so nenne ich
die meine auch. Was hältst du davon, Claire?«
»Prima, Susan«, antwortete Claire geistesabwesend. »Und sehr
passend.« Sie berührte die Sonnenuhr mit einer fast schon wehmütigen Geste und
machte sich daran, ihr Werkzeug wegzuräumen.
Als ich ihr nachsah, wie sie durch den verwilderten hinteren Garten
zum Haus ging, wurde mir bewusst, dass Claire wie ich ihre Familie in jungen
Jahren verloren hatte. Ihre Großeltern und Eltern hatten alle nicht mehr
gelebt, als sie zwanzig war; bei der Heirat mit Marks und Susans Vater war sie
allein gewesen. Und abgesehen von Mark und Susan hatte
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