Licht über den Klippen
sie auch jetzt niemanden
mehr.
Offenbar war das der Lauf der Welt. Wir konnten nie wissen, was die
Zeit uns brachte. Der Schatten der Sonnenuhr hatte sich ein kleines Stück weiterbewegt.
Sie zählte die Momente, nicht die Monate, behauptete das Gedicht.
Fast beneidete ich den Bronzeschmetterling, der sich mit einem Dasein in der
Gegenwart begnügte und sich nicht um die Vergangenheit scherte. Um das, was
hätte sein können.
Claires tröstende Worte, ich solle Geduld haben, mit der Zeit werde
alles leichter, kamen mir in den Sinn .
Ich konnte nur hoffen, dass sie recht hatte.
SIEBEN
D er Begriff
»Halluzination«, hieß es in dem Internet-Artikel, bezieht sich auf falsche
Sinneswahrnehmungen, meist der Augen oder Ohren.
Ich machte es mir auf dem Stuhl an Marks Schreibtisch bequem und las
weiter. Der endlos lange, in Fachsprache verfasste Artikel beschrieb in dem Unterpunkt
»Auditive Halluzinationen« sehr zutreffend das Phänomen der Stimmen, die ich in
meinem Zimmer durch die Wand gehört hatte. Und obwohl die meisten Leute, die
imaginäre Dinge wahrnahmen, wohl eher Menschen als Pfade heraufbeschworen, war
mir klar, dass das, was ich im Wilden Wald gesehen hatte, unter die Kategorie
»Visuelle Halluzinationen« fiel.
Die Ursachen, erklärte der Artikel, seien unterschiedlicher Natur.
Wenn ich für mich Schizophrenie ausklammerte, blieben noch eine ganze Reihe
anderer, darunter Stress, Depressionen und Erschöpfung. Außerdem gab es
Arzneien, bei denen Halluzinationen als Nebenwirkung auftreten konnten,
insbesondere Beruhigungsmittel.
Ich holte meine Schlaftabletten aus der Handtasche auf dem Boden
neben dem Stuhl, gab den Namen in den Computer ein und überprüfte die Nebenwirkungen.
Und tatsächlich, da stand es schwarz auf weiß: Halluzinationen.
Ich atmete durch. Also verlor ich doch nicht den Verstand, dachte
ich erleichtert. Die Pillen waren schuld. Wenn ich sie nicht mehr nahm und
somit die Ursache beseitigte, hatten auch die Halluzinationen ein Ende,
behauptete der Artikel.
Ich hörte, wie die Hintertür aufging, jemand eintrat, die Stiefel
abstampfte und wie die Pfoten der Hunde über den Boden klackerten. Mir blieb
gerade genug Zeit, um die Schlaftabletten in meiner Handtasche verschwinden zu
lassen und das Suchfenster zu schließen, bis Mark hereinkam und sich erkundigte:
»Na, macht’s Spaß?«
»Ich weiß nicht so recht. Welcher Entwurf gefällt dir?«
Er hob argwöhnisch eine Augenbraue. »Ich dachte, die Website ist für
Susan.«
»Ja, aber wir versuchen gerade, ein Image für Trelowarth zu
kreieren, und dabei möchtest du sicher ein Wörtchen mitreden. Schließlich ist
auch dein Blog betroffen.«
»Mein Blog?«
»Du bist doch der Fachmann für alte Rosensorten. Nun zieh kein
solches Gesicht. Das wird dir Spaß machen. Per Internet kannst du mit all
deinen Kunden ständig in Kontakt sein.«
»Das bin ich jetzt schon. Sie schicken mir ihre Aufträge per E-Mail,
und ich führe sie aus.«
»Was für eine gesellige Art der Kommunikation.«
»Und worüber soll ich bloggen?«
Ich zuckte mit den Schultern. Ȇber das, was du im Garten so
treibst. Oder über die Geschichte der Rosen. Egal. Es ist dein Blog.«
»Na schön, Superhirn.« Er rückte einen Stuhl heran und setzte sich
neben mich. »Ich gebe mich geschlagen.« Er überflog meine Vorschläge. »Der da
ist nicht übel.«
»Gut. Der gefällt Susan auch. Nun sollten wir uns über die Farben
unterhalten.«
Mark ertrug geduldig eine halbe Stunde Website-Planung mit mir,
bevor er unruhig wurde.
»Genug«, sagte ich. »Ich habe ausreichend Arbeitsmaterial und kann
die Website in einer Woche fertigstellen.«
»In einer Woche.« Offenbar bereitete ihm der Gedanke, dass ich so
lange in seinem Büro bleiben würde, Kopfschmerzen.
»Ich muss nicht hier arbeiten, wenn das ein Problem ist«,
versicherte ich ihm, »sondern kann mich mit deinem zweiten Drucker und dem
Laptop an den Küchentisch setzen.«
»Nicht nötig. Weißt du was? Geh doch in das alte Arbeitszimmer
meines Vaters. Da hast du deine Ruhe und stolperst nicht die ganze Zeit über
meine Sachen.«
Eine gute Lösung, dachte ich. Onkel Georges Büro lag nahe bei meinem
Zimmer und war ein ganzes Stück von Marks und Susans Schlafzimmern entfernt,
sodass ich bis spät in die Nacht tüfteln konnte, ohne Angst haben zu müssen,
dass ich sie aufweckte. Denn nur so würde ich die ersten Nächte ohne
Schlaftabletten überstehen.
Die Website war tatsächlich innerhalb einer
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