Licht über den Klippen
Als die Kaffeekanne leer war und Claire übers Abendessen
nachzudenken begann, war ich munterer denn je.
»Ich helfe euch«, bot ich an.
Susan schüttelte den Kopf. »Nein, wir schaffen das schon. Bleib
sitzen und entspann dich.«
»Du bist gerade erst angekommen«, sagte Claire und tätschelte im
Vorübergehen meine Schulter. »Lass dich ein bisschen von uns umsorgen.«
Ich stand auf und trat ans Bücherregal, in dem ich die alten,
abgegriffenen Bände über die örtliche Geschichte entdeckte, die meine Mutter
Onkel George und Claire geschenkt hatte. Es war ihre Leidenschaft gewesen,
vergessene Bücher in verstaubten Londoner Buchhandlungen mit knarrenden Dielen
aufzuspüren.
Ich zog einen Band heraus und schlug ihn auf: Eine Geschichte von Polgelly , verfasst im neunzehnten
Jahrhundert von einem Herrn, der seiner Ausdrucksweise nach zu urteilen ein
eifriger Methodist gewesen war. Er missbilligte praktisch sämtliche hiesigen
Ereignisse und verlor kein gutes Wort über Trelowarth, von dem er behauptete,
es sei »eine Räuberhöhle gottloser Spitzbuben gewesen, obwohl sein
gegenwärtiger Besitzer Mr Hallett alles in seiner Macht Stehende getan hat, den
Teufel von diesem Ort zu vertreiben«.
Leider erwähnte der fromme Verfasser der Geschichte von Polgelly nirgends, was genau diese
gottlosen Spitzbuben getrieben hatten. Ich stellte das düstere Buch zurück ins Regal
und versuchte es mit einem anderen: Polgelly
im Lauf der Zeit .
Dieser Band versprach angenehmere Lektüre. Im Gegensatz zu dem
anderen kam er nicht wie eine Predigt daher, und der Autor, ein Mann mit Hang
zur Romantik, begann mit alten Legenden sowie der Geschichte des Brunnens in
St. Non’s und verwob die Fakten mit Zitaten aus Gedichten.
Bis zum Essen hatte ich das Buch bereits halb gelesen, und
anschließend nahm ich es als Bettlektüre mit hinauf in mein Zimmer. Leider war
ich, des Kaffees oder meiner Aufgewühltheit wegen, kein bisschen müde. Nach
Mitternacht schluckte ich eine meiner Schlaftabletten und wartete darauf, in
Morpheus’ Arme zu sinken.
Kurz vor dem Einschlafen meinte ich, dieselben Stimmen wie vor dem
Frühstück zu hören, ein leises Flüstern, das hinter der Wand am Kopfende meines
Bettes hervorzudringen schien.
»Seid endlich still«, murmelte ich, das Gesicht im Kissen vergraben.
»Lasst mich schlafen.«
Doch sie redeten weiter. Am Ende störte ihr Flüstern mich nicht
mehr, weil die eine Stimme einen sehr angenehmen Tonfall hatte und mich sanft
ins Reich der Träume hinübergleiten ließ.
SECHS
S usan hatte recht
gehabt: Ich fand ihre Freundin Felicity tatsächlich sympathisch.
Sie war wie Susan lebhaft und intelligent und lachte gern, eine
hübsche junge Frau mit dunklem, lockigem Haar, das sie mit einem Gummiband zusammengebunden,
mit einer Klammer zurückgesteckt und schließlich mit einem Tuch umwickelt hatte
wie eine Zigeunerin, um es vor dem Staub zu schützen, den wir aufwirbelten.
»Ich frage mich wirklich«, sagte sie und hob ein kaputtes
Billard-Queue hoch, »warum jemand so was aufbewahrt.«
»Du kanntest meinen Dad nicht.« Susan lächelte. »Wahrscheinlich
wollte er noch was Nützliches aus dem Ding machen.«
»Ich mache jetzt auch was Sinnvolles damit.« Sie warf das Queue auf
den wachsenden Müllhaufen vor der Tür. Bei dem Gewächshaus handelte es sich um
eine relativ moderne Konstruktion. Laut Aussage von Susan war es ein Jahrzehnt
zuvor erbaut worden, als Onkel George plötzlich beschlossen hatte, neue Rosensorten
zu züchten. Doch wie so viele andere zuvor hatte auch dieses Projekt ihn nicht
lange fesseln können. Seine Leidenschaft dafür kühlte rasch ab, als er merkte,
dass das Züchten schwieriger war als erwartet, und erlosch schließlich ganz.
Danach wurde das Treibhaus nur noch als Lagerraum genutzt.
Seit dem Frühstück kämpften wir uns zu dritt schon zwei Stunden lang
durch das Chaos, um Ordnung zu schaffen – eine Herkulesaufgabe.
»Sieht fast so aus, als hätte eure Familie nie etwas weggeworfen«,
meinte Felicity. »Was ist das, dein erster Schuh?« Sie hielt Susan einen
winzigen Turnschuh hin.
»Eher der von Mark.« Susan hatte mittlerweile selbst einen kleinen
Schatz entdeckt. »Schaut euch das an«, sagte sie und schlug ein dickes Album
auf, damit wir einen Blick auf die Fotos darin werfen konnten, deren Farbe im
Lauf der Jahre verblichen und ein wenig rötlich geworden war. Es handelte sich
um einige schöne Ansichten der Gärten von Trelowarth.
»Schade drum. Das
Weitere Kostenlose Bücher