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Licht über den Klippen

Licht über den Klippen

Titel: Licht über den Klippen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Kearsley
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vor.
    Ich wich weiter zurück.
    »Warten Sie«, sagte er und schickte sich an, mir zu folgen. Da
geschah etwas sehr Merkwürdiges: Als ich mich von ihm wegbewegte, begann er,
sich aufzulösen, und verschwand wie ein Schatten.
    Ich glaubte wahrzunehmen, wie er die Hand nach mir ausstreckte, um
mich aufzuhalten. Dann war er plötzlich nicht mehr auf dem Hügel und ich auch
nicht.
    Ich stand wieder auf dem Küstenpfad, an dem Einschnitt in der
Klippe, und sah das Wasser unter mir weiß gegen die schwarzen Felsen brodeln.
     
    Onkel Georges Büro, in dem ich in der vergangenen Woche am
Computer gearbeitet hatte, war in meiner Kindheit mein Lieblingsversteck
gewesen. Hinter dem grünen Stuhl kauernd, konnte ich alle drei Türen im Auge
behalten – die eine direkt gegenüber, die auf den Flur führte, und auch die
beiden anderen zu den Nachbarzimmern. Der alte Schreibtisch hatte einen offenen
Raum für die Beine, in den ich genau passte, und hinter den langen, schweren
Vorhängen konnte man sich ebenfalls hervorragend verstecken.
    An diesem Nachmittag zog ich mich dorthin zurück. Bei meiner Heimkehr
hatte ich erleichtert festgestellt, dass niemand im Haus war – alle arbeiteten
noch. So konnte ich ungestört weiter Internet-Artikel über Geisteskrankheiten
und Halluzinationen lesen.
    Mich störte weniger die Tatsache, dass ich die Realität so schnell
und leicht hatte verlassen können, als dass ich glaubte, den Hügel hinaufgeklettert
und dem Mann in Braun begegnet zu sein, obwohl ich immer auf dem Küstenpfad
geblieben war.
    Die Schlaftabletten konnten daran nicht schuld sein, weil ich seit
einer Woche keine mehr genommen hatte. Und ich litt auch nicht unter Stress.
Ich hatte sogar meine Armbanduhr abgenommen und sie mit meinem Handy in eine
Schublade gelegt.
    Ich würde einen Arzt aufsuchen, ihm alles erklären und ihn fragen
müssen, ob es eine Möglichkeit gebe, meine Halluzinationen zu behandeln.
    Ich las weiter in den Artikeln: Geistig
gesunde Menschen wissen, anders als solche mit psychischen Erkrankungen, dass
sie halluzinieren.
    Immerhin ein Trost. Ich hatte bei meiner Begegnung mit dem Mann auf
dem Hügel die ganze Zeit über gewusst, dass er nicht real war. Trotzdem hatte
sich alles sehr real angefühlt – der Wind, die Wärme der Sonne auf meiner Haut
und der harte Boden unter meinen Füßen …
    Halluzinationen können mehrere
Sinne betreffen, und zwar so intensiv, dass es fast unmöglich wird, das
Eingebildete vom Realen zu unterscheiden. Saft schmeckt nach Saft, und Seide
fühlt sich an wie Seide.
    Im Verlauf meiner Recherchen stellte ich fest, dass es bei
Halluzinationen nicht ungewöhnlich war, sich menschliche Gestalten einzubilden,
sie sprechen zu hören oder sich mit ihnen zu unterhalten. Angeblich waren diese
Fantasie-Menschen harmlos, solange sie einem keine heiklen Dinge einredeten,
zum Beispiel einen Mord.
    Studien haben ergeben, schrieb ein Autor, dass es wenig zu nutzen
scheint, wenn man versucht, diese Erscheinungen zu ignorieren. Erfolgreicher
ist es offenbar, ihnen einfach zu sagen, sie sollen verschwinden. Außerdem …
    Da nahm ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr. Ich hob den
Blick, weil ich Mark oder Susan erwartete, doch in der Tür stand niemand. Dafür
ging auf dem Flur jemand vorbei. Ein Mann. Ich sah ihn verschwommen wie einen
grauen, durchsichtigen Schatten. Er blieb stehen und schaute herein, als hätte
er gerade etwas Ungewöhnliches entdeckt.
    Ich schloss die Augen und hielt den Atem an, ohne mich zu bewegen. Er ist nicht real , sagte ich mir.
Meine Gehirnzellen produzierten diese Chimäre, das hatten mir die Artikel
soeben erklärt. Da war niemand.
    Als ich die Augen wieder öffnete, war tatsächlich niemand mehr da.
    Diesmal hatte ich es geschafft, die Erscheinung zu kontrollieren.
Vielleicht war das die richtige Methode: Ich musste mir die Zeit nehmen, mich
selbst davon zu überzeugen, dass ich mir alles nur einbildete. So würde ich bis
zu meinem Arztbesuch vorgehen.
    Auf dem Schreibtisch schlug eine kleine Messinguhr fünf Mal. Bald
würden die anderen kommen. Ich beschloss, etwas zum Abendessen zu kochen.
    Als ich mich erhob und die Hand nach dem Computer ausstreckte,
verschwamm der Schreibtisch und mit ihm der ganze Raum vor meinen Augen und
löste sich auf.
    Wieder machte ich die Augen zu. Ich hörte, wie das Fenster im Wind
zu klappern begann, und nahm durch die geschlossenen Lider ein grelles Licht
wahr, das mich dazu brachte, sie zu öffnen.
    Die Tür zum

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