Licht über den Klippen
Nebenzimmer war offen, und darin stand der Mann in
Braun.
Jetzt trug er einen offenen weinroten Hausmantel, unter dem ich das
schlichte weiße Hemd, die Hose und die hohen Stiefel erkannte. Er wirkte groß,
war mit Sicherheit über eins achtzig. Seine Schultern füllten die Tür fast aus.
Mit leiser Stimme fragte er: »Wer sind Sie?«
Ich wunderte mich gerade über diese merkwürdige Frage meiner
Halluzination, als sein rechter Arm sich ein wenig bewegte. Nun sah ich, was er
in der Hand hielt: ein Messer.
Genauer gesagt, einen kleinen Dolch. Ich bekam es mit der Angst zu
tun, obwohl dieser Mann doch eine Ausgeburt meiner Fantasie war und nach Aussage
sämtlicher Artikel, die ich gelesen hatte, harmlos. Wie auf dem Hügel wich ich
zurück, in der Hoffnung, dass das die gleiche Wirkung haben würde wie dort.
Doch statt zu verschwinden, folgte der Mann mir, erreichte mich mit zwei
Schritten und packte mit der freien Hand meinen Arm.
Die Berührung schien ihn genauso zu erschrecken wie mich.
Noch einmal fragte er: »Wer sind Sie?«
Die Ratschläge der Internet-Artikel im Hinterkopf, erwiderte ich
seinen Blick, so ruhig ich konnte, und antwortete: »Ich bin real, Sie nicht.
Und jetzt verschwinden Sie.«
Sein Hausmantel war aus schwerer Seide mit handgenähten
Säumen. Das bemerkte ich, da er ihn auszog und mir reichte, mit der Begründung,
meine eigene Kleidung erscheine ihm »bei der Kälte unpassend«. In der Tat war
es in dem Raum kühler und feuchter als zuvor, und der Morgenrock wärmte mich.
Ich dankte dem Mann, glättete eine Falte im Stoff und strich mit den Fingern
über die dunkelrote Seide. Schon eigenartig, dachte ich, wie real der Geist
Dinge wirken lassen konnte. Es war die eine Sache, einen wissenschaftlichen
Artikel darüber zu lesen, wie Halluzinationen die Sinne täuschten; etwas ganz
anderes war es, einen Hausmantel zu tragen, der gar nicht existierte, den Stoff
deutlich zu spüren und die nicht ganz regelmäßigen Stiche am Ärmel zu sehen.
Obwohl auch der Stuhl, auf dem ich saß, nicht real sein konnte,
fühlte ich die Lehne im Rücken. In dem Raum, der nur noch wenig Ähnlichkeit mit
Onkel Georges Arbeitszimmer hatte, standen zwei Stühle mit geschwungenen
Armlehnen. Dazwischen befand sich ein kleiner Tisch aus dunklem Holz mit einem
Tablett voller Tabakspfeifen. Regale waren nicht zu sehen, die Bücher stapelten
sich auf einem Schränkchen mit verschließbarer Tür. Auf dem Tisch stand
außerdem eine Flasche, die der Mann nun nahm, um einen Zinnbecher mit etwas zu
füllen, das aussah und roch wie Brandy.
»Ich werde nicht in Ohnmacht fallen«, versprach ich, als er den
Becher vor mir auf den Tisch stellte.
»Das hatte ich auch nicht befürchtet.« Er setzte sich auf den
zweiten Stuhl mir gegenüber, nachdem er sich selbst einen Brandy eingeschenkt
hatte. »Aber es wäre nur zu verständlich, wenn Sie sich durch den Schrecken der
Ankunft etwas unwohl fühlten.«
»Welche Ankunft?«, fragte ich. »Sie sind es doch, der ständig
irgendwo auftaucht, dabei sind Sie nicht mal real.«
»Nein?«
Wie sehr das Lächeln sein Gesicht veränderte! Jetzt, da ich mich zu
entspannen begann, wurde mir erst bewusst, wie attraktiv er war – für ein
Trugbild. Blonde Strähnen durchzogen sein braunes Haar. Aus der Nähe sah ich,
dass seine hellen Augen grün waren und sich unter dem Stoppelbart ein kräftiges
Kinn verbarg.
Ich trank meinen Brandy, der gut schmeckte und sogar wirkte.
Der Mann musterte mich. »Sie sind eindeutig kein Geist, und an
Hexerei glaube ich nicht.«
»Und ich glaube nicht an Sie«, sagte ich. »Verschwinden Sie.«
Er lehnte sich mit dem Becher in den Händen zurück und musterte mich
eingehend, als überlege er, wie er mit mir umgehen solle. »Wo kommen Sie her?
Ihre Ausdrucksweise erscheint mir seltsam. Sie sprechen nicht wie die Leute in
der Gegend.«
»Sie auch nicht.«
»Ich bin in London geboren und aufgewachsen.«
»Tatsächlich?«
»Sie glauben mir nicht?«
»Sie sind nicht real«, erinnerte ich ihn. »Sie können geboren sein,
wo Sie wollen.«
»Danke.« Er wirkte belustigt.
Wie lange würde das noch so weitergehen?, fragte ich mich. Die
vorherigen Halluzinationen waren alle kürzer gewesen. Vielleicht, dachte ich,
konnte ich die Sache beenden, indem ich offensiver agierte.
Nachdem ich den Becher geleert hatte, sagte ich: »Ich kann nicht so
hier herumsitzen. Ich habe zu tun.«
»Tatsächlich?«
»Ja. Wenn Sie mich also entschuldigen würden …«
Als
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