Licht über den Klippen
Männer sprachen. Sie reichten einander
nicht die Hand , und der Constable blieb im Sattel. Sein Gesicht konnte ich
unter dem Hut nicht erkennen, doch seine Gesten wirkten unangenehm arrogant.
Die Körpersprache beider Männer verriet, dass sie sich nicht mochten. Als der
Mann in Braun eine Äußerung des Constable mit einem Schulterzucken
kommentierte, bemerkte ich seinen Schwertgurt.
Da hob der Constable den Blick und ließ ihn über die Fenster
schweifen. Unwillkürlich trat ich einen Schritt zurück. Dabei begann der Raum,
sich vor meinen Augen aufzulösen.
Wie zuvor auf dem Küstenpfad, befand ich mich wieder an der Stelle,
an der ich mich zu Beginn meiner Halluzination aufgehalten hatte, am Schreibtisch
im Arbeitszimmer meines Onkels George, die Hand ausgestreckt, um den Computer
auszuschalten, und die Uhr vor mir schlug fünf.
Unglaublich, dachte ich, dass die Halluzination keinerlei reale Zeit
in Anspruch genommen hatte, wie die Uhr bewies.
Ich fuhr den Computer herunter, sank auf den grünen Stuhl, stützte
die Ellbogen auf den Schreibtisch und den Kopf in die Hände. Dann starrte ich
ungläubig auf meinen Ärmel und berührte ihn, um sicher zu sein.
Die rote Seide des Hausmantels glitt durch meine Finger.
NEUN
A ls ich am folgenden Morgen die Schranktür öffnete, hing
der Hausmantel noch immer ganz hinten auf dem Bügel, auf den ich ihn gehängt
hatte. Es handelte sich um ein reales Kleidungsstück, ein wenig ausgeblichen
und an den Rändern ausgefranst vielleicht, aber definitiv dasselbe, das ich
getragen hatte, als ich … was für ein Erlebnis das gewesen war, konnte ich
nicht sagen.
Ich wusste nur, dass die Ereignisse sich innerhalb allerkürzester
Zeit zugetragen haben mussten, das hatte die Uhr auf Onkel Georges Schreibtisch
bewiesen. Selbst wenn ich in eine Art Trance verfallen wäre und der Hausmantel
sich schon in dem Arbeitszimmer befunden hätte, wäre kaum Zeit genug gewesen,
ihn anzuziehen, bevor die Uhr aufhörte zu schlagen.
Was bedeutete, dass die Geschehnisse auf einer anderen Zeitebene
passiert sein mussten.
Ich schüttelte den Kopf. Zeitreisen fanden in Büchern oder Filmen
statt, nicht in der Wirklichkeit. Trotzdem hielt ich den Hausmantel in Händen.
Ich hatte die ganze Nacht über versucht, eine Erklärung zu finden, mit dem
einzigen Erfolg, dass die Kopfschmerzen vom Vorabend mich weiter begleiteten.
Ich wäre nicht zum Frühstück hinuntergegangen, wenn es nicht an
meiner Tür geklopft hätte.
»Eva?«, hörte ich Susans Stimme.
Ich hängte den Hausmantel hastig zurück in den Schrank, ging zur Tür
und öffnete sie.
»Immer noch Kopfweh?«, erkundigte sie sich, als sie mich sah. »Du
Arme. Ich bringe dir Tee und Toast. Du musst was essen.« Sie stellte das
Tablett auf dem Bett ab. »Brauchst du sonst noch irgendwas?«
»Nein, danke, das hier …« Ich richtete den Blick auf das Tablett. »…
ist wunderbar. Ihr dürft mich nicht so verwöhnen.«
»Du bist unser Gast«, sagte Susan. »Außerdem hilfst du uns. Du hast
die ganze vergangene Woche damit verbracht, eine Website für uns einzurichten.
Wahrscheinlich kommen die Kopfschmerzen daher.«
Ich biss ein Stück von dem Toast ab. »Sie ist übrigens fertig, eure
Website.«
»Wirklich? Kann ich sie sehen?«
Besonders wohl war mir nicht bei dem Gedanken, in Onkel Georges
Arbeitszimmer zurückzukehren, aber mir fiel keine plausible Ausrede ein. Susan,
die mein Zögern bemerkte, sagte: »Wenn du dich nicht gut genug fühlst …«
»Nein, nein, schon in Ordnung.« Ich straffte die Schultern. »Ich
zeig sie dir gern.«
Sie bestand darauf, dass ich zuerst den Toast aß. Den Tee nahm ich
mit.
Erst als wir die Website und die Presseinfo besprochen hatten und
Susan ging, um Informationen über die Gärten zu holen, die wir einfügen
wollten, kam mir der Gedanke, dass die geschichtlichen Hintergründe mir
vielleicht helfen könnten, meine seltsamen Erlebnisse besser zu verstehen.
Der Ire hatte den Duke of Ormonde erwähnt. Der Name schien echt. Und
über echte Herzöge konnte man in Burke’s
Peerage , dem Adelslexikon, recherchieren.
Im Internet fand ich Einträge zu zwei Dukes of Ormonde. Da der Ire
auch von Queen Anne gesprochen hatte, entschied ich mich für den zweiten Duke,
einen Zeitgenossen dieser Königin.
Wäre doch meine Mutter da gewesen, die leidenschaftliche
Historikerin! Unter den gegebenen Umständen musste ich bei den Eckdaten
anfangen: 1714, der Zeitpunkt des Todes von Queen Anne und der
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